Eindrücke aus Absurdistan

Ein paar vollkommen subjektive Wahrnehmungen in der nationalen Notlage

VON WOLFGANG HORN

Eigentlich bin ich kuriert. Nein, nicht von Corona. Das hatte ich noch nicht, toi, toi, toi. Stattdessen habe ich vor Tagen die dritte, die Boosterimpfung erhalten. Kuriert bin ich, eigentlich, vom Fernsehen. Hin und wieder schaue ich mir dann doch die eine oder andere der vielen – meist gleichermaßen unsäglichen – Gesprächsrunden zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen an. Heute wieder. Illner. Thema: Pandemie. Vertreter der CDU gegen die der neuen Regierung. Von rechts wird die Verantwortung für die drohende Gesundheitskatastrophe an die Neuen weitergereicht, an die, die noch nicht im Amt sind. Von den Neuen, von denen, die noch nicht im Amt sind, kommt die Frage, warum die Länder aktuell nicht handeln. Die Neuen beharren darauf, daß Spahn als erster die Bevölkerung in eine falsche Sicherheit mit der Bemerkung gelotst habe, man könne die “pandemische Notlage” für beendet erklären. Zu Recht im Übrigen. Der – vielleicht – künftige Vorsitzende der Christlichen Union wirft der neuen Koalition vor, der neue Maßnahmenkatalog gegen das Coronavirus sei unzureichend. Zu Recht im Übrigen. Die FDP hat sich, nach Spahn, sehr weit aus dem Fenster gehängt, die künftigen Minister Buschmann und Wissing vor allem, mit ihr werde es keine Kontaktbeschränkung mehr geben. Freedom Day. Mal locker dahergeschwätzt von den bequemen Oppositionsbänken her. Jetzt, von den harten Regierungssesseln sieht das alles womöglich ganz anders aus. Nunmehr hört man allenfalls noch den liberalen Kleinlaut. Alles im Eimer. Die Pandemie überfordert die Politik insgesamt. Die deutsche Politik jedenfalls. Der künftige Kanzler wartet ab, auf den Start. Die amtierende Kanzlerin wartet ab, aufs Ende. Statt gemeinsam zu handeln, statt öffentlich deutlich darzulegen, welche Katastrophe, welche Notlage dem Land und den Menschen in diesem Land drohen. Die Röttgens und die Habecks, die Wissings und die Spahns ducken sich weg, mehr oder weniger. Nachdem sie noch die eine oder andere Schmähung über die Parteigrenzen geworfen haben. Fortschrittskoalition hatte ich mir anders vorgestellt. Absurd. In der alten Försterei, einem Fußballstadion in Köpenick, trafen sich vor Wochenfrist 22.000 Menschen, um das Lokaldarby in Berlin zwischen der Alten Dame Hertha aus dem Berliner Westen und den „Eisernen“ von Union Berlin aus dem Osten der Hauptstadt zu verfolgen. Offiziell 2G. Wer mag das kontrolliert haben? Und weit und breit auf Tribünen dicht an dicht Männer und Frauen ohne jede Mund- und Nasenschutzmaske. Keine Maske, kein Abstand. Kein Schutz. Pandemie mit den höchsten Inzidenzzahlen ever? Sei‘s drum. Wir feiern, was das Zeug hält. Die Welt könnte ja morgen untergehen. Zur gleichen Zeit sagen Unternehmen und Firmen ihre seit längerem geplanten Weihnachtsfeiern ab. Auch solche in kleinerem Rahmen. Die Gastronomen und Cafébetreiber leiden unter der Pandemie. Erneut. Jetzt fallen auch noch die kleinen Feiern aus, die mit zehn, zwölf Teilnehmern. Was für eine Gesellschaft, die solches zeitgleich zuläßt, möglich macht? 2G auf den Rängen. Und unten auf dem grünen Rasen geimpfte Kicker und Ungeimpfte. Kicker als Idole? Ach was. Vereine als Vorbild? Never ever. Fußball ist ein von der Gesellschaft und ihren Nöten abgekoppeltes Geschäft. Schon lange nicht mehr die „schönste Nebensache der Welt“, wie es früher oft hieß, verharmlosend-beschönigend schon seinerzeit. Köln, Sessionsauftakt am 11.11.. Auf der Zülpicher Straße tausende Jecke, schön kostümiert. Dicht an dicht wird gefeiert, getanzt, getrunken und jebützt. 2G? Wer will das schon wissen? Heute, zwei Wochen später: Infektionsrekord. Und die Inzidenz steigt weiter. Im beschaulichen Wermelskirchen das Nämliche. Musiktour. Feste auf dem Rhombusgelände. 2G? 3G? Einerlei. Es wird ohnehin kaum kontrolliert. Die Kehrseite? Die Beerdigungsfeiern einer älteren Dame, am Grab und hernach in der Gastwirtschaft, wie das so üblich ist in Dorf und Stadt, werden abgesagt. Von den nächsten Angehörigen. Die Gefährung vor allem der älteren erwarteten Besucher sei zu groß. Eine ungesellige Beisetzung. Das will niemand. Aber es ist notwendig. Heute ist Höchststand: die Inzidenzzahl ist so hoch wie noch nie. Und sie wird weiter steigen. Es werden mehr Menschen infiziert werden, es werden mehr Menschen erkranken, es werden wieder Menschen auf den Intensivstationen der Kliniken im Kreis landen und es werden auch wieder Menschen sterben. An Covid-19. Es ist kaum vier Wochen her, da phantasierten alle noch vom „Freedom-Day“, dem Tag, an dem alle Coronamaßnahmen aufgehoben werden können, weil keine Gefahr mehr drohe. Der oberste Kassenarzt Gassen zuoberst. Der Gesundheitsminister sinnierte öffentlich, die pandemische Notlage auslaufen zu lassen. Das Signal: Es ist geschafft. Wir haben das Virus überwunden. Die Pandemie ist besiegt. Die Ampelparteien überboten sich in Abschaffungs-Orgien der Coronamaßnahmen. Zuvörderst die „Freiheitspartei“ FDP. Nur gut einen Monat später ist alles wieder anders. Politiker, einst mit heiligen Eiden unterwegs, niemals werde es hierzulande eine Impfpflicht geben, halten nunmehr mindestens bei Menschen, die körperlichen Kontakt zu vulnerablen Gruppen haben, also medizinischem und Pflegepersonal in Krankenhäusern und Heimen, Pflichtimpfungen für erforderlich. Landauf, landab tönt es, es werde keine Lockdowns mehr geben, also keine Kontaktbeschränkungen mehr. Die Vorsänger für diese Kakophonie stellt die Freidemokratische Partei. Die Ministerpräsidenten der am meisten von Corona geschüttelten Bundesländer, Sachsen, Bayern und Thüringen, spekulieren mittlerweile öffentliche über Lockdowns oder Teil-Schließungen. Warum das alles? Ganz einfach: Politiker aller Couleur, also aller demokratischer Parteien, aller Lager haben die eindeutigen Warnungen aus der Wissenschaft und Medizin ignoriert. Weil Wahlkampf war und Wahlen. Weil man Menschen in solcher Zeit nicht mit Warnungen kommen möchte, wenn allenthalben vom Abbau der Coronabeschränkungen die Rede war. Weil der Freedom-Day in die Debatte eingebracht wurde. Von Ärztefunktionären und Politik. Von Medien und Journalisten. Von Bildzeitung und Internetforen. Gegen jeden guten Rat derer, die Ahnung haben von der Materie. Politik und Medien waren zu feige, sich entschieden denen entgegenzustellen, die seit das Virus existiert, vor allem in den Sommermonaten, Corona leugnen und sich dem Impfen verweigern, die mit Lügen und abenteuerlichen Verschwörungserzählungen die Menschen verunsichern. Die Politik war auf der ganzen Linie abgetaucht. Quer durch alle demokratischen Parteien. Die gegenwärtige Regierung, die Regierungsparteien, die Ampelparteien. Der Gesundheitsminister tönte, die nationale Bedrohung sei vorbei. FDP-Fraktionschef Buschmann erklärt, mit einer Überlastungen des Gesundheitswesens sei nicht mehr zu rechnen. FDP-Chef Lindner faselt noch vor wenigen Tagen im deutschen Fernsehen davon, Kontaktbeschränkungen, wissenschaftlich sei das erwiesen, hätten keinen Nutzen. Der kommende Kanzler ist kaum zu vernehmen, wie man denn der katastrophalen Lage begegnen könne. CDU-Ministerpräsidenten fordern, die „Lage der nationalen Bedrohung“ wieder einzuführen. Als hätte es den Spahn und seinen Satz niemals gegeben. Entsetzlich. Die Parteien haben über lange Strecken den Ernst der Lage falsch eingeschätzt. Schließlich haben sie gemeinsam die Pandemiebekämpfung hinter die parteipolitische Ränke geschoben. Aus lauter Feigheit vor den Quer-und Wenigdenkern und Impfverweigerern wurde aus allen Parteien lauthals beteuert, es werde keine Impfpflicht geben. Die Wissenschaftler haben schon im Sommer diese Position in Frage gestellt. Es war alles schon früh genug bekannt. In Deutschland aber haben Parteien, Politiker, Regierungen und Abgeordnete versagt. Anders als die in Spanien oder Portugal. Als die in Dänemark, Frankreich oder in Italien. Zudem. Alle Befragungen der Menschen in Deutschland kommen zu dem Ergebnis, daß die übergroße Mehrheit der Menschen harte Maßnahmen befürwortet, wenn sie denn unerläßlich sind. Kontaktbeschränkungen, Lockdowns werden angenommen. Die Mehrheit der Menschen ist verantwortlich und solidarisch. Querdenker sind eine kleine radikale und unsolidarisch-egomanische Minderheit, überwiegend von extremistischen und rechtspopulistischen Kräften in Dienst genommen, der es weniger ums Impfen geht als um den Kampf gegen die Verhältnisse, gegen demokratische Strukturen, gegen politische und wissenschaftliche Eliten. Auf diese Gruppierungen dürfen Staat und Politik, darf die Zivilgesellschaft nicht länger hören. Sie müssen bekämpft und isoliert werden statt hofiert.

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

    • Stephan Wind
    • 26.11.21, 2:16 Uhr

    Brillante Zusammenfassung über das was die gegenwärtige spürbare Spannung im Raum aufrecht erhält.

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