Freitag, 17. Mai (19 Uhr): Bingo im Haus Eifgen

“Eine gute Demokratie ist nicht wertneutral”

(…) Eine gute Demokratie muss Werte haben, Werte leben und Werte verteidigen. Diese Werte sind in ihrer Verfassung formuliert und festgehalten. An der Spitze der Werte im Grundgesetz steht die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Wenn eine politische Partei diese Werte verachtet und verhöhnt, wenn sie die Menschenwürde ethnisch definiert, wenn sie Feindschaft sät, Hass und Rassismus predigt – dann ist sie keine demokratische Partei. Die AfD ist daher keine demokratische Partei. (…)

Man muss sie (die Demokratie) lernen, immer und immer wieder, man muss sie hüten, immer und immer wieder. Und man darf sie nicht denen ausliefern, die sie beseitigen wollen; ihnen gegenüber braucht die Demokratie, um des Schutzes der Menschenwürde wegen, den Mut zur Intoleranz – und zwar selbst und gerade dann, wenn die Verächter der Menschenwürde in die Parlamente gewählt worden sind. Eine gute Demokratie ist nicht wertneutral. Zu den Freiheiten der Demokratie gehört nicht die Freiheit, die Demokratie und ihre Grundwerte umzubringen.

Autokraten begründen ihre Herrschsucht gern mit “Demokratie” – sie seien schließlich gewählt worden. Das ist ein kapitales Missverständnis von Demokratie, das ist ihre Pervertierung. Demokratie ist nicht einfach ein formales Funktionsprinzip und ein Organisationsmodell, nicht einfach eine Abstimmungsprozedur. Demokratie ist ein Lebensprinzip und eine Wertegemeinschaft. Zu ihr gehört das ständige Nachdenken und das zivilisierte Streiten darüber, wie diese Wertegemeinschaft aussehen soll, welche Werte ihr besonders wichtig sind und wie diese verwirklicht werden. Demokratie ist eine Zukunftsgestaltungsgemeinschaft, die sich bei dieser Gestaltung an den Werten der Verfassung orientiert. Die AfD ist keine solche Partei. (…)

In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, in der sich die Menschen trotz Unterschieden in Schicksal, Rang, Talenten, Geldbeutel, sozialer und geografischer Herkunft auf gleicher Augenhöhe begegnen können? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen schützt und die Heimat ist und bleibt für Mensch und Tier? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die sich als europäische Gesellschaft begreift?

Wir brauchen eine Gesellschaft und eine Politik, die Frieden stiftet – auch zwischen verfeindeten Staaten. All das ist der Gehalt der geschriebenen Werte des Grundgesetzes. Zu den ungeschriebenen Werten gehört die Kraft der Hoffnung, die sich auf die Grundrechte und Grundwerte stützt. Sie ist eine kreative Kraft, die die Zukunft nicht den Schwarzmalern, den Katastrophalisierern und den politischen Propheten des Untergangs überlässt, die dann darauf ihren Extremismus gründen.(…)

Eine Demokratie, die mehr sein will als eine Abzählerei am Wahlabend, eine Demokratie, die mehr sein will als eine statistische Einheit – eine solche Demokratie braucht stützende Regeln und stützende Institutionen. Dazu gehören der Sozialstaat und die Zivilgesellschaft; dazu gehören Institutionen und Parteien, die die Grundwerte kräftigen. Demokratisch sind Parteien, die das versuchen, wenn auch mit Irrungen und Wirrungen. Parteien, die diese Werte verächtlich machen und den alten Nazi-Parolen eine neue braune Heimat geben – solche Parteien sind undemokratisch. Der Aufstieg der AfD ist daher ein Indiz für eine Krise der Demokratie. (…)

Diese Krise hat auch damit zu tun, dass bei den demokratischen Parteien der Grundrechtsstolz bröckelt. Es fehlt die unverdrossene und mutige Zuversicht, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor 75 Jahren hatten. Sie hatten, in schwierigsten Zeiten, die Kraft der Hoffnung – und mit dieser Kraft haben sie die Grundrechte geschrieben. (…)

Aber: Die Weltzuversicht vieler Menschen zerbricht. Selbst manchen von denen, die im Wir-schaffen-das-Jahr 2015 noch mit Herzblut Flüchtlingen geholfen haben, kam das Grundvertrauen abhanden, damit etwas Gutes getan zu haben. Die Gewissheit ist einem Ohnmachtsgefühl gewichen, dem Gefühl, einem Sog ausgesetzt zu sein. An diesem Sog arbeiten demokratische Parteien mit, wenn sie Parolen und Forderungen der AfD kleinlaut und großmäulig zugleich übernehmen, und so der Eindruck entsteht, dass sie ihre Politik weniger am Grundgesetz, als an der AfD ausrichten – wie das zumal in der Flüchtlings- und Migrationspolitik der Fall ist.

Wenn an die Stelle des Glaubens daran, dass jeder seine kleine oder größere Welt ein wenig besser machen kann, ein bleierner Fatalismus tritt – dann ist der Boden für Antidemokraten bereitet. Es ist bitter, wenn dann das Wort Zukunft vom Frohwort zum Drohwort wird. Das darf nicht passieren. Die Frage ist nicht, welche Zukunft man erduldet, die Frage ist, welche Zukunft man haben will. Es muss eine Zukunft ohne Antidemokraten in den Parlamenten sein. Die AfD ist keine demokratische Partei.

Heribert Prantl, Die Zukunft als Drohwort. Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Oktober 2023

Beitragsfoto © Conny Schneider auf Unsplash

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