Menschen verlassen ihre Heimat, überschreiten Grenzen, betreten Neuland
VON WOLFGANG HORN
Wenn annähernd 90 Menschen an einem warmen Sommerabend im keineswegs klimagekühlten Film-Eck in Wermelskirchen fast zwei Stunden lang gebannt den Geschichten von Flüchtlingen über ihren beschwerlichen Weg nach Deutschland lauschen, den Berichten von Einheimischen aus Wermelskirchen und anderswo in der Republik, wie sie die Fremden aufgenommen und gar von ihnen gelernt haben, wenn sie sich den Texten von Jugendlichen zuwenden, die sich ihren eigenen Kopf machen über Heimat und Menschlichkeit und Tränen, wenn all das geschieht, dann findet eine Lesung von Marie-Louise Lichtenberg aus ihrem neusten Buch „Ein Gefühl von Zukunft“ im Wermelskirchener Kultkino Film-Eck statt.
So geschehen gestern Abend. Marie-Louise Lichtenberg, bis vor zwei Jahren Lehrerin an der hiesigen Hauptschule und dort Gründerin des wohl einmaligen Leseclubs „Do it – Read a book!“, Künstlerin, Autorin und Leseförderin, las aus ihrem soeben erschienenen Buch „Ein Gefühl von Zukunft“ aus Anlass des morgen stattfindenden Weltflüchtlingstags.
In ihrem Buch hat Marie-Louise Lichtenberg dreizehn sehr unterschiedliche Fluchtgeschichten versammelt von Menschen, alten wie jungen, Frauen, Männern und ganzen Familien, die aus ganz verschiedenen Gründen ihre Heimat verlassen und sich auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, etwa, weil in ihrem Land Bürgerkrieg herrscht, weil sie ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung wegen verfolgt wurden, weil sie in arger Not lebten und nicht wußten, wie sie ihr und das Leben ihrer Kinder sichern konnten.
Die Autorin stellte einige dieser teils aufwühlenden Fluchtgeschichten vor und las auszugsweise aus ihnen. Dabei erläuterte sie so ganz nebenbei, von welcher Art der jesidische Glaube ist, dem eine vergleichsweise große Gruppe der Wermelskirchener Flüchtlinge angehört. „Deutschland, das Land der Kultur, der Wissenschaft und der Menschenrechte“. Dieser Satz entstammt dem Brief einer Frau, die aus Syrien zu uns geflüchtet ist. Ein Lob, das manchem deutschen Zuhörer im Halse stecken blieb angesichts der vielfältigen Bemühungen politischer Kreise, den Flüchtlingen das Leben hier so schwer wie nur irgend möglich zu machen.
Marie-Louise Lichtenberg hatte auch Deutsche gebeten, zu den Fremden Stellung zu beziehen, die Geschichte ihrer Begegnung zu schildern, von der Hilfe zu erzählen, die Erfahrungen versammelt, die Menschen in ihrer Rolle als Mentoren, Sprachlehrer, Vermieter, Arbeitgeber, Pflegeeltern oder Heimleiter aus Berlin, Bochum, Halle (Saale), Herne, Kleve, Köln, Odenthal, Remscheid, Wermelskirchen gemacht haben.
Mit ihrem Buch hat sich Marie-Louise Lichtenberg auf eine, wie sie schreibt: „aufwühlende Reise“ begeben, ins eigene Land, in die eigenen Grenzen. Die Texte, die sie gestern Abend auszugsweise vorlas, führte das Publikum, jeden einzelnen Besucher in das eigene ich, in die persönliche Befindlichkeit, ausgelöst durch die Schilderungen der geflüchteten Menschen, die zu Nachbarn werden und geworden sind, zu Freunden, zu Familienmitgliedern, wie einige deutsche Helfer in ihren Texten betonten.
Bürgermeister Rainer Bleek hatte eingangs der Veranstaltung Einführungsworte zum Weltflüchtlingstag gesprochen und dabei auch die neuesten Zahlen über die Anzahl von Flüchtlingen weltweit sowie die konkreten Angaben für Wermelskirchen präsentiert. Er sei stolz, so Bleek, daß in Wermelskirchen ein derartiges Buch einer Wermelskirchener Autorin erschienen sei.
Das Lichtenbergsche Buch versammelt berührende Texte zu Flucht, Frieden und der Kraft der Gemeinschaft. „Ein Gefühl von Zukunft“ ist ein einziges Zeugnis für Mitmenschlichkeit, für Empathie, Respekt, Achtung und Würde in Zeiten, in denen das öffentliche Wort oft gezeichnet ist von gedanklicher Ohnmacht, mitunter gar von Beleidigung und Haß, von Rassismus und Unmenschlichkeit. Schade bleibt, daß jene, die sich öffentlich kritisch äußern zu Migration und Flucht, sich der Wucht der Texte aus dem Lichtenbergschen Buch nicht aussetzen wollten. Schade auch, daß, von den ganz wenigen Ausnahmen der Mitarbeiter der Willkommensinitiative abgesehen, lokale Politiker gestern Abend im Film-Eck nicht gesehen wurden.
Gleichwohl: Eine rundum gelungene Veranstaltung, die ohne die Unterstützung des Ehepaars Schiffler, das das Film-Eck betreibt, nicht zustande gekommen wäre. Das Film-Eck ist ein kulturelles Kleinod der Stadt Wermelskirchen, das die Kraft und den Elan der hiesigen Zivilgesellschaft stets bestärkt.
Der Erlös der Veranstaltung kommt der Wermelskirchener Tafel und der Initiative „Willkommen in Wermelskirchen“ zugute.
Ja, ich weine
„Ich drücke gläserne Tropfen der Wut und Verzweiflung aus meinen Seelenfenstern.
Sie zerspringen am Boden der Schuld, auf dem ich stehe
und die Regenbogensplitter bohren sich in die Erde;
Auf dass sie die mächtigen Menschen dieser Welt treffen.
Nicht alle, dies geb’ ich gerne zu, verdienten einen solchen Dolchstoß.
Jedoch immer noch genug.“
(Aus dem Text der vierzehnjährigen Schülerin Jana Eschmann)
Marie-Louise Lichtenberg (Hg.) • Ein Gefühl von Zukuft. Menschen verlassen ihre Heimat, überschreiten Grenzen, betreten Neuland • Allitera Verlag München 2019 • 240 Seiten •ISBN 978-3-96233-154-2 • www.allitera.de • € 19,90
Fotos © Michael Lichtenberg