Müssen wir überhaupt noch bauen?

Der Landschaftsarchitekt Klaus Overmeyer über Städte im Wandel und wie Beteiligungsprozesse Veränderungswiderstände abbauen können

VON UWE BLASS

Partizipation: Das Aushandeln von Veränderung

„Wir wissen zwar nicht genau, wie unsere Zukunft aussieht, aber wir ahnen, dass sich eine Menge in unseren Städten ändern wird“, sagt der Wuppertaler Landschaftsarchitekt Prof. Klaus Overmeyer. Globale Veränderungen durch Kriege, Migrationsbewegungen, eine veränderte Mobilität, nicht zu vergessen der Klimawandel oder die jüngste Pandemie, verändern unsere Gesellschaft und wirken sich unmittelbar auf die (räumliche) Entwicklung unserer Städte und Quartiere aus. 

Städte haben eine lange Tradition, die oftmals über Jahrhunderte im Stadtbild ablesbar ist, erklärt Overmeyer, dennoch stünden wir aktuell vor einer großen Transformation, die sich stark auf unser Lebensumfeld auswirken wird und die ausgehandelt werden müsse. „Wir Architekten sind eigentlich dazu ausgebildet, fertige Bilder von öffentlichen Räumen und Gebäuden zu entwerfen.“ Das Entscheidende sei, dass sich eine Stadt oder ein Raum oft ganz anders entwickele, als ursprünglich geplant. Es kristallisiere sich mittlerweile heraus, dass Fachleute die unterschiedlichen Interessen und Positionen von Bürger:innen und Institutionen, Politik und Verwaltung sowie wirtschaftlich betriebenen Unternehmen berücksichtigen und unter einen Hut bringen müssten. Dazu seien Aushandlungsprozesse erforderlich.

Urban Gardening © Polina Chistyakova

Viele Kommunen versuchen deshalb, die Planung öffentlicher Räume, Gebäude und Quartiere in partizipativ ausgerichtete Planungsprozesse zu integrieren, um die gestalterisch beste Lösung für einen Ort mit der Ausbalancierung von Interessen vor Ort zu verknüpfen. „Raumentwicklung ist äußerst komplex“, erklärt Overmeyer die Situation, „ein rein räumlicher Entwurf, der unterschiedliche Interessenslagen, stadtökonomische Rahmenbedingungen, den Klimawandel oder ökologische Zusammenhänge nicht berücksichtigt, greift zu kurz.“ Daher ist eine kluge Prozessgestaltung, die Einflussfaktoren integriert, bei vielen künftigen Bauaufgaben genauso wichtig wie der Entwurf selbst.

Beteiligungsprozesse

Planung und Beteiligung sind oft noch klar voneinander getrennt, mit der Gefahr, dass am Ende Planungen ohne Akzeptanz entstehen. „Konkret zeigt sich das in neugebauten, aber oftmals leblosen Stadtquartieren. Städte sind an vielen Stellen nach rein ästhetischen Gründen gestaltet, das passt aber nicht unbedingt mit den Bedürfnissen der Menschen oder Unternehmen vor Ort zusammen.“ Prozesse, die Planung und Beteiligung miteinander verzahnen, versuchen, die Schätze und Talente eines Raumes und seiner Nutzer:innen schon gleich zu Beginn eines Planungsprozesses als Ressource zu nutzen, in dem sich beispielsweise Planende, Politikerinnen, Unternehmen oder zivilgesellschaftliche Organisationen gemeinsam erst einmal Gebiete anschauten. „Was steckt in so einem Gebiet? Welche Talente hat ein Gebiet? Gibt es dort besondere Unternehmen oder Handwerksbetriebe, die da vor Ort sind? Spielt der Verkehr dort eine große Rolle oder hat das Gebiet vielleicht grüne Orte und Rückzugsgebiete für Tiere oder Pflanzen?“ Auch im zweiten Schritt versuche man, noch nicht konkret zu entwerfen, sondern überlege auf einer Werteebene, wie man in Zukunft in diesem Quartier oder dieser Nachbarschaft leben möchte. Erst dann gehe es darum, den Ideen auch eine Form und räumliche Gestalt zu geben.

© Pixabay

Städtische Verwaltung bewegt sich

Die Themen der ´Großen Transformation` schlagen sich unmittelbar vor Ort nieder. Sie stellen Bewährtes in der Stadtentwicklung infrage und machen ein entschlossenes Umsteuern erforderlich. Dazu Overmeyer: „Die Verwaltungen sind unmittelbar mit diesen Problemen konfrontiert, weil die Herausforderungen unserer Zeit es an sich haben, extrem an das öffentliche Interesse zu appellieren. Gerade Verwaltung und Politik sind mehr denn je gefordert, und ich kann erfreulicherweise feststellen, dass in vielen Amtsstuben auch ein großes Umdenken einsetzt.“ Dort gäbe es auch viele junge Menschen, die die Welt verändern und positiv in einem öffentlichen Interesse gestalten wollten, auch in einem gemeinwohlorientierten Sinn. 

Eine wichtige Erkenntnis, die gerade in Verwaltung sehr forciert werde, sei, dass man ressortübergreifend denken müsse und der Schlüssel zur Lösung dieser Herausforderung immer darin liege, dass man die verschiedenen Abteilungen, wie z.B. die Verkehrsabteilung, den Wohnungsbau, die Kulturabteilung oder das Ordnungsamt zusammenbringe, so dass diese einzelnen Ressorts auch an gemeinsam getragenen Visionen arbeiten könnten.

Citizen-Science

Bei Beteiligungsprozessen sind auch immer Akteur:innen ohne fachlichen Planungshintergrund in räumlichen Planungsprozessen dabei, die ernst genommen werden wollen. Das sei manchmal ein schwieriges Dilemma, konstatiert Overmeyer. Zwar gäbe es in der Bevölkerung ein enormes Wissen, in der Wissenschaft spreche man gar von Citizen-Science, und dass merke man auch an Stadtentwicklungsprozessen. Aus fachlicher Sicht müsse man allerdings folgendes bedenken: „Architektur und der Städtebau verlangen, so wie in anderen Disziplinen auch, eine hohe fachliche Kompetenz und Erfahrung, Daher ist es in Beteiligungsprozessen wichtig, genau zu erkennen, wo man das Wissen aus der Zivilgesellschaft oder anderer Institutionen braucht und wo es darum geht, planerisch einfach mal sein Handwerk zu machen.“ Soll heißen, es brauche klare Verabredungen und Phasen, wo Beteiligungs- und Dialogprozesse gestaltet würden und es zum Austausch komme. Dann jedoch müsse das Besprochene auch professionell planerisch qualifiziert werden. „Ein wichtiger Schlüssel ist, dass diese Planungsprozesse iterativ laufen und dass man Rückkopplungsschleifen hat“, ergänzt Overmeyer.

Beispiel Friedhofsplanung

„Die größeren Städte stehen unter einem enormen Druck“, erklärt Overmeyer die städtebauliche Situation vieler dichtbewohnter Gebiete, „weil die Fläche in der Stadt bei zunehmenden Ansprüchen begrenzt ist. Gleichzeitig gibt es aber auch einen starken Bedarf danach, keine neuen Flächen mehr zu versiegeln und mit Flächenressourcen effizient umzugehen.“ 

© mali maeder

Für die Landschaftsarchitektur ist, um einmal ein Beispiel zu nennen, die Friedhofsplanung und –umgestaltung, ein aktueller Aufgabenbereich. Aufgrund der zunehmenden Urnenbestattungen brauchen viele Städte ihre ausgewiesene Friedshofsfläche nicht mehr in vollem Umfang. So könnte zusätzlicher Freiraum für Erholungsnutzungen entstehen. Doch die Umgestaltung vom Friedhof zum Park hat ihre Tücken. Der eine möchte mit seinem Rad schnell durch den Park radeln, andere rekeln sich auf der Wiese in der Sonne, während auf benachbarten Friedfofsflächen Trauernde an einem Grab stehen. „Es hat heute ein starkes Umdenken stattgefunden und damit rücken die nicht mehr benötigten Friedhofsflächen stark in den Fokus. Die sind ja eigentlich Grünflächen, die bisher aber nicht als Parks genutzt wurden. Mit dieser Begrenztheit an freien Flächen, steigen aber nun die Ansprüche an dieses Grün, sowohl aus einer ökologischen Sicht, als wertvolle Biotope oder Ressourcen für Artenvielfalt in einer Stadt, aber gerade auch aus einer Erholungssicht.“ 

„Diese Mischung, eine Friedhofsnutzung und die neuen Anforderungen von einer modernen Stadtgesellschaft übereinander zu bringen, erzeugt enorm viele Ziel- und Flächenkonflikte“, erklärt der Fachmann. „In der Regel versucht man, bestimmte Friedhofsflächen über einen längeren Zeitraum nicht mehr zu belegen, um neue Spielräume in der Nutzung zu gewinnen. Doch auch nach langer Zeit ist es sehr schwierig, aus Pietätsgründen andere Nutzungen zuzulassen. Kirchengemeinden sind eine sehr wichtige Schnittstelle, und auch da braucht es Beteiligungsprozesse. Gerade mit der Nachbarschaft gilt es auszuloten, welche Nutzung denn da in Zukunft möglich sein soll.“ Die Bandbreite reiche von einfachen Spazierwegen, über Picknickmöglichkeiten bis hin zu Sportanlagen oder Urban-Gardening-Flächen, wobei Overmeyer betont: „Das ist gerade beim Friedhof immer ein sehr heikles Thema.“

Erster muslimischer Friedhof in Deutschland entsteht in Wuppertal

In der Krummacher Straße entsteht neben einem evangelischen und einem jüdischen Friedhof der erste eigenständige muslimische Friedhof in Deutschland, bei dessen Planung auch Overmeyers Lehrstuhl beteiligt war. „Die muslimische Gemeinde hat sich sehr stark für diesen ersten muslimischen Friedhof engagiert und ist an uns herangetreten“, erzählt der Landschaftsarchitekt. „Sie hatten die Fläche am Krummacher Friedhof im Auge und die Zusammenarbeit mit uns war für sie ein Einstieg in diese Planung.“ Die Zusammenarbeit mit einer Universität oder Hochschule habe dabei immer einen unverbindlichen Charakter. Aus der akademischen Position sei es oft leichter, eine öffentliche Diskussion zu lancieren und über verschiedene Modelle und Varianten ins Gespräch zu kommen. 

Geplant: Muslimischer Friedhof in Wuppertal

Ca. 20 Studierende schlossen sich in Kleingruppen zusammen und produzierten eine Reihe von Entwürfen, die der Gemeinde erst einmal einen Überblick über die Möglichkeiten gab. Dazu gehörten u.a. Fragen zum Eingang, zum Versammlungsraum, der Parksituation und der Anlage der Gräber. Auch die Frage: „Wie verhalten wir uns zu den jüdischen Nachbarn? Müssen wir da eine Hecke pflanzen oder ist gerade der weite Blick förderlich?“, standen zur Debatte. „Ich fand sehr produktiv, dass beide Seiten, sowohl junge Menschen, die sich noch gar nicht mit dem Tod beschäftigt hatten, als auch die Gemeinde selbst, unheimlich viel dadurch gelernt haben.“

Zukunftsvision: Statt Neubau, Bauen mit Bestand

Aufgrund der begrenzten Flächenressourcen bedeuten neue Nutzungskonzepte in allen Bereichen einer Stadt auch immer ´Bauen mit Bestand’. „In Deutschland ist ein Großteil der Stadt bereits gebaut, und wir müssen uns allein angesichts des Klimawandels und des Ressourcenverbrauchs viel stärker damit auseinandersetzen, wie wir diese bestehende, graue Energie, die auch in den Gebäuden steckt, weiter nutzen können“. Abriss und Neubau oder gar Bauen auf der grünen Wiese bildeten bisher den Schwerpunkt vieler Planungen, doch davon gehe man mehr und mehr ab. „Heute, gerade auch in der jüngeren Generation unserer Architekten, gibt es ab und zu schon Stimmen, die vermehrt fragen: ´Müssen wir überhaupt noch bauen? Die Studierenden sagen, der Raum ist ja da, wir müssen ihn nur anders nutzen, umbauen, weiter bauen, aber wir müssen nicht mehr unsere ganze Energie in den neuen Entwurf von Gebäuden setzen“, sagt Overmeyer. 

´Architects for future`, eine Bewegung, die auch hier in Wuppertal entstanden sei, sowie einige Kolleg:innen der Fakultät würden nicht müde zu warnen, dass all unsere Materialien, wie z.B. Sand und Kies knappe Ressourcen seien, die irgendwann nicht mehr ausreichend zur Verfügung stünden. „Man versucht vom Beton wegzukommen und eher in Holzbauweise zu bauen, die Häuser auch als CO2-Speicher zu betrachten. Da ist auf jeden Fall viel Kreativität gefragt und die Kreativität, die wir bisher auf der grünen Wiese ausgelebt haben, die müssen wir jetzt in die bestehenden Strukturen stecken.“

© Julia Volk

Braucht Wuppertal psychologische Hilfe?

Die Zukunftsentwicklung von Städten und Regionen vergleicht Overmeyer mit dem Gang zum Psychologen. Mehr denn je wird es für Städte und Regionen wichtig, sich darüber klar zu werden, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen und welche Schwerpunkte sie dabei setzen.

Wuppertal habe bereits verschiedene gesamtstädtische Konzepte für Verkehr, Digitalisierung oder Stadtentwicklung gemacht. Herausforderung ist es, diese unterschiedlichen strategischen Konzepte zu einem Kompass für die Stadtentwicklung zusammenzuführen. Wenn eine Stadt für sich herausgefunden hat, welche Prioritäten sie im Wohnungsbau, in der Verkehrswende, der klimagerechten Stadtentwicklung oder der Gewerbeentwicklung setzen will, kann sie die Hebel der Veränderung viel besser ansetzen. Aus vielen Projekten weiß Overmeyer: „Das Spannungsfeld zwischen den Veränderungswiderständen vor Ort und dem visionären Kompass ist groß. Übergeordnete Ziele wie die Klimaneutralität bis 2030, die Reduktion des innerstädtischen Verkehrs um 50% oder der Bau eines neuen Quartiers in Holzbauweise stoßen in der Umsetzung auf die Macht des Bewährten.“ Im Diskurs ein gemeinsames Verständnis der Zukunft zu erlangen, ist ein erster Schritt. Veränderung braucht aber vor allem Experimentierfelder und positive Erlebnisse. Wuppertals Nordbahntrasse ist dafür das beste Beispiel. ______________________________________________________________________ 

Prof. Dipl.-Ing. Klaus Overmeyer leitet das Lehr- und Forschungsgebiet Landschaftsarchitektur in der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen an der Bergischen Universität.

Beitragsfoto © Steffen Roth

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