VON UWE BLASS
Ein Tag, zwei Personen, 800 Seiten – das 1922 erschienene Werk „Ulysses“, das Experten allein schon wegen seiner vielfältigen Erzählstile als „Kerntext der literarischen Moderne“ betiteln, hatte auch für seinen Erfinder James Joyce eine besondere Bedeutung: „Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren Jahrhunderte lang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe. Nur so sichert man sich seine Unsterblichkeit.“ Ob und wie ihm das gelungen ist, erläutert Prof. Dr. Katharina Rennhak, Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität im „Jahr100Wissen“-Interview.
Einer der Begründer des modernen Romans war der irische Schriftsteller James Joyce, dessen Roman Ulysses 1922 veröffentlicht wurde. Worum geht es in diesem Werk?
Rennhak: Der Roman spielt an nur einem Tag, dem 16. Juni 1904, in Dublin und präsentiert minutiös die Alltagshandlungen, Gedanken und Wahrnehmung der beiden Hauptfiguren, Stephen Dedalus und Leopold Bloom. Die Wege der beiden Figuren kreuzen sich wiederholt, Stephen und Leopold begegnen sich aber erst im 14. (von insgesamt 18) Kapiteln.
Der 22-jährige intellektuelle Stephen ist vor kurzem, weil seine Mutter im Sterben lag, aus Paris zurückgekehrt und arbeitet jetzt in Dublin als Lehrer. Er fühlt sich in seiner Heimatstadt nicht mehr zu Hause, hat sich vom katholischen Glauben losgesagt und ist frustriert, weil er nicht sieht, wie er seine ambitionierten Pläne, Schriftsteller zu werden, verwirklichen kann. Im ersten Kapitel beschließt er, nicht mehr in die Wohnung im Martello Tower außerhalb der Stadt, die er sich mit zwei anderen jungen Männern teilt, zurückzukehren, ohne einen klaren Plan zu haben, wohin ihn sein Weg führen wird. Auch Leopold Bloom, Anzeigenakquisiteur für ein Dubliner Tagblatt und gutmütiger Kleinbürger in der midlife crisis, ist als nicht-gläubiger Jude ein Außenseiter in Dublin. Auch er wandert an diesem 16. Juni ruhelos durch die Stadt. Er versucht, seiner Eifersucht auf Blazes Boylan, den Geliebten seiner Frau Molly, Herr zu werden. Seine Gedanken kreisen immer wieder um seinen, zehn Jahre zuvor verstorbenen Sohn. Am Ende des Tages findet Stephen in Bloom einen Vater, Leopold Bloom in Stephen einen Sohn. Die Vorstellungen von Zugehörigkeit und Heimat dieser beiden rast- und heimatlosen Figuren ordnen sich neu.
Die Erstveröffentlichung von Joyces Ulysses gestaltete sich schwierig. Was war das Problem?
Rennhak: Ja, die Publikationsgeschichte von Ulysses ist wirklich spannend. Geplant hatte Joyce die Erzählung von Leopold Bloom eigentlich als letzte short story für seinen Kurzgeschichtenzyklus Dubliners. Das Manuskript wuchs dann aber zwischen 1914 und 1921 auf etwa 800 Seiten an. Erste Auszüge erschienen von März 1918 bis August 1920 in serieller Form in der amerikanischen Zeitschrift The Little Review. Die Publikation musste dann allerdings eingestellt werden, als ein New Yorker Gericht die Herausgeberinnen der Zeitschrift wegen der Veröffentlichung der Texte zu einer Geldstrafe verurteilte. Das Gericht fand die Auszüge aus Ulysses so obszön und anstößig, dass es eine ausführliche Darstellung der fraglichen Passagen für unzumutbar hielt.
Weitere Auszüge erschienen dann in Harriet Weavers Zeitschrift The Egoist in England. Hier weigerten sich aber schon die Drucker, die als zu obszön empfundenen Abschnitte überhaupt zu setzen. Für die Erstausgabe des Buchs fand sich zunächst weder in England noch in Amerika ein Verleger, und so erschien sie schließlich 1922 in Paris in Sylvia Beachs Verlag Shakespeare & Company. Die Ausgabe war streng limitiert und von den 3000 Exemplaren soll das U.S. Post Office 500 verbrannt haben, knapp 500 weitere beschlagnahmte der Zoll in Folkstone. In Amerika, England und Irland blieb der Roman bis in die 1930er Jahre verboten.
Der Erfolg von Ulysses war aber nicht aufzuhalten?
Rennhak: Die Berichterstattung in den Medien hatte das Interesse vieler Leserinnen und Leser geweckt. Eine von George Goyert für den Züricher Rhein Verlag vorgenommene Übersetzung des Romans ins Deutsche erschien bereits 1927, eine französische Übersetzung 1929. Das Interesse in ganz Europa war groß. Schließlich hatte die Veröffentlichung der Auszüge in The Little Review und The Egoist, zwei wichtige Organe der literarischen Avantgarde, in denen u.a. auch T.S. Eliot, Wyndham Lewis oder W.B. Yeats publizierten, den Ulysses von Anfang an als einen Kerntext der literarischen Moderne etabliert.
Was war an diesem Roman zu Beginn des 20. Jahrhunderts denn so modern?
Rennhak: Oh, das ist eine Frage, zu deren Beantwortung Wissenschaftler:innen ganze Bücher schreiben. Will man die Frage so kurz und bündig wie möglich beantworten, dann würde ich sagen, zentral für das modernistische Erzählen ist grundsätzlich die Darstellung eines an sich trivialen Alltags aus der subjektiven Sicht einer Figur oder mehrerer Figuren. Im Mittelpunkt steht weniger das Handeln der Charaktere als vielmehr deren Wahrnehmung einer hochgradig komplexen und sich unablässig wandelnden Welt, in der die Figuren hin und wieder kurze Momente einer tieferen Einsicht erleben.
In Joyces Ulysses sprudelt es nur so vor narrativer und sprachlicher Experimentierfreudigkeit. Jedes Kapitel des Romans wechselt den Erzählstil und passt ihn dem Erlebnis und der Stimmung an, die für Stephen oder Bloom in diesem Kapitel zentral sind. “Jede Episode […] sollte ihre eigene Erzähltechnik nicht nur bedingen, sondern geradezu hervorbringen”, erklärt Joyce (auf Italienisch in einem Brief an Carlo Linati im September 1920).
Die Komplexität der Welt spiegelt sich darüber hinaus im Ulysses in einem komplexen System enzyklopädischer Anspielungen und literarischer Verweise – auf Homers Odyssee natürlich, aber auch auf Shakespeares Hamlet und die Werke Dantes. Zudem gibt es unzählige Referenzen auf weitere nicht nur literarische, sondern auch theologische, philosophische oder wissenschaftliche Intertexte vom Mittelalter bis zur Moderne. Das 13. Kapitel (‘Nausicaa’), in dem Leopold Bloom am Strand in einer voyeuristischen Betrachtung der koketten Gerty schwelgt, die mit ihm flirtet und für ihn den Rock hebt, parodiert zum Beispiel den Stil eines Groschenromans. Das 14. Kapitel (‘Oxen of the Sun’), in dem Bloom der werdenden Mutter Mrs. Purefoy einen Besuch in der Frauenklinik abstattet, bietet ein grandioses Pastiche der wichtigsten englischen Prosastile von der altenglischen Literatur über das neoklassizistische Erzählen bei Jonathan Swift, den selbstreflexiven Gestus Laurence Sternes bis zum spätviktorianischen Erzählstil Oscar Wildes, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die Geburt und Entwicklung eines Kindes werden hier analog gesetzt zur Entwicklung der englischen Sprache und Literatur.
Joyce arbeitet in seinem Roman erstmalig mit der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms. Was ist das?
Rennhak: Der allererste war Joyce nicht. In Ulysses findet sich im letzten Kapitel (‘Penelope’) mit dem assoziativen Gedankenfluss von Molly Bloom aber wohl der virtuoseste Versuch, den Ablauf mentaler Prozesse sprachlich abzubilden. Bereits das dritte Kapitel (‘Proteus’) nutzt diese Erzähltechnik extensiv und führt so in die Gedankenwelt Stephens ein. Syntaktisch unvollständige und ungewöhnliche Sätze sowie Halbsätze vermitteln den Eindruck, hier würden Gedankenprozesse mimetisch abgebildet. Die Gedankenwelt des intellektuelle Stephen zeichnet sich dabei allerdings durch eine gewisse gedankliche Klarheit und Strukturiertheit. Im ‘Proteus’-Kapitel werden so nachvollziehbare Assoziationsketten in meist kurzen Sätzen entfaltet und eine vermittelnde Erzählinstanz gibt mitunter Auskunft über die Bewegung der Figur im Raum.
Im berühmten Schlussmonolog des Romans von Molly Bloom dahingegen fehlen alle Orientierungshilfen. Molly ist im Einschlafen begriffen und vor ihrem inneren Auge ziehen zum Teil miteinander völlig unverbundene Erinnerungsfetzen – an Ereignisse des vergangenen Tages ebenso wie an längst vergangene Tage – gänzlich ungeordnet vorbei. Joyce verzichtet in diesem Kapitel auf jegliche Interpunktion. Nur ganz am Ende findet sich ein Punkt, der das lebensbejahende “Yes” unterstreicht, mit dem Mollys innerer Monolog nicht nur endet, sondern auch begonnen hat.
Joyces Ulysses wird oft als ein Roman gelesen, der wesentlich von Sigmund Freuds psychoanalytischen Theorien beeinflusst ist. Woran kann man das festmachen?
Rennhak: Wir hatten ja im Zusammenhang mit der Publikationsgeschichte schon über die vielen Obszönitäten im Ulysses gesprochen. Wie Freuds Patienten werden auch die Figuren im Ulysses wesentlich von ihren z.T. unbewussten sexuellen Wünschen und Ängsten beherrscht. Ganz gemäß Freuds Vorstellung vom Verhältnis von Es, Ich und Über-Ich in der menschlichen Psyche zeitigt das Verdrängen von Tabubrüchen ganz unterschiedlicher Art ein schlechtes Gewissen. Die Weigerung Stephens zum Beispiel, seiner Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen und an ihrem Sterbebett niederzuknien und zu beten, verfolgt ihn den ganzen Roman hindurch. Traumatische Erlebnisse treten nur in Erinnerungsfetzen an die Gedankenoberfläche. Den Höhepunkt des Romans bildet nach Meinung vieler Leserinnen und Leser das 15 Kapitel (‘Circe’), in dem Stephen und Leopold Bloom in einem Bordell in Dublins Rotlichtviertel Station machen. Dieses zweihundert Seiten lange Kapitel hat die Form eines Dramas und stellt folglich eine extreme Abwendung von den Gattungskonventionen des Romans dar. Über weite Strecken bleibt hier unklar, welchen Realitätswert die dargestellten Ereignisse haben. Wird Bloom in Bella Cohens Etablissement zur Frau, indem er Frauenkleider anlegt? Bloom und Stephen verwandeln sich doch nicht wirklich in Schweine? Setzt Bloom seine masochistischen Fantasien hier in die Tat? Oder werden (durchwegs?) – drogeninduzierte? – Träume und Halluzinationen dargestellt?
Axel Schmitt hat diese Episode des Ulysses treffend als “Satansmesse des freigesetzten Unbewussten” bezeichnet. Das Unbewusste widersetzt sich bekanntlich jedem Versuch, es erzählerisch zu ordnen. Insofern kann die dramatische Form der ‘Circe’-Episode als programmatisch verstanden werden.
An einer Stelle sagt Joyce: „Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren Jahrhunderte lang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe. Nur so sichert man sich seine Unsterblichkeit.“ Ist diese Intention aufgegangen?
Rennhak: Ja, definitiv. Die Rechnung ist zumindest in den letzten hundert Jahren voll aufgegangen. Joyces Ulysses ist so dicht und anspielungsreiche, dass jede neue Lektüre neue Bedeutungszusammenhänge aufdeckt, und zwar auf allen Ebenen des Textes: in Bezug auf Joyces Wortschöpfungen, die intertextuellen Verweise, die zum Teil minutiös realistische Abbildung der Dubliner Lebenswelt, die Reflektion philosophischer und theologischer Konzepte, das experimentierfreudige Spiel mit Gattungskonventionen, die Figurencharakterisierung und -konstellation, etc., etc.
Joyce war zudem geschickt genug, befreundeten Leserinnen und Lesern Leitfäden durch sein komplexes Werk mit auf den Weg zu geben. Die erste und wegweisende literaturwissenschaftliche Untersuchung, Stuart Gilberts James Joyce’s Ulysses: A Study (1930), zum Beispiel basiert wesentlich auf einer schematischen Übersicht, die Joyce Gilbert überließ. Das sogenannte “Gilbert-Schema” listet für jedes Kapitel eine Reihe stilprägender und bedeutungsgenerierender Korrespondenzen auf: die genaue Uhrzeit und den Ort der Handlung, ein Körperorgan, ein dominantes Diskurssystem (z.B. Theologie, Botanik oder Architektur), eine Farbe, ein Symbol und eine literarische Technik sowie Namen und Begriffe aus Homers Odyssee. Nicht zuletzt liefert dieses Schema auch die Kapitelbezeichnungen, die die Dubliner Alltagserfahrungen von Stephen, Bloom und Molly in den epischen Verweishorizont der Odyssee setzen. Während sich Joyce für die Veröffentlichung dazu entschloss, die einzelnen Episoden nur durchzunummerieren, haben sich diese Kapitelbezeichnungen gemeinhin durchgesetzt. Auch ich habe sie hier benutzt.
Während sich die erste Generation von Literaturwissenschaftler:innen daran machte, den Roman mit Hilfe der Joyceschen Schemata zu entschlüsseln, Strukturprinzipien aufzudecken und Bedeutungsintentionen zu verstehen, gab die Literaturwissenschaft ab den späten 60er Jahren, den Anspruch, den Ulysses entschlüsseln zu wollen, auf. Jetzt betonte man die sprachlichen Experimente, die als endlos bedeutungsgenerierend verstanden wurde, betonte die spielerische Offenheit des Textes und die unauflösbare Ambiguität, die alle Ebenen des Romans durchzieht.
In diesem Zusammenhang fiel auch auf, dass die verschiedenen Schemata, die Joyce an seine Freunde verteilte, sich so deutlich von einander unterschieden, dass sie letztlich vielleicht weniger dazu beitragen, Ordnung und Klarheit zu schaffen, sondern vielmehr die Komplexität des ohnehin unheimlich komplexen Romans noch weiter steigern.
Was bringt diese Leseodyssee den heutigen Lesern?
Rennhak: Leserinnen und Leser, die sich von den Widerständigkeiten der vielen Experimente nicht abschrecken lassen und sich unaufgeregt an die Lektüre machen, werden – damals wie heute – nicht zuletzt bestens unterhalten. Bei aller Gelehrsamkeit, die im Ulysses steckt, ist der Roman an vielen Stellen sehr komisch und bietet so manches, worüber man mal schmunzeln und oft auch laut lachen kann.
Katharina Rennhak studierte Anglistik und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am St. Patrick’s College Maynooth, Irland. Von 1997 bis 2009 lehrte sie Englische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität. Seit 2009 ist sie Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Katharina Rennhak ist Präsidentin der European Federation of Associations and Centres of Irish Studies (EFACIS). Sie ist auch Mitglied der IASIL-Exekutive 2016–19 und 2019–2022 (Europäische Vertreterin).
Beitragsfoto: Prof. Dr. Katharina Rennhak (c) Foto Auen60 Photography