Wermelskirchen | Mike Altwicker war wieder da. Gestern Abend. In der Stadtbücherei. Mike wer? Mike Altwicker, Buchhändler aus Wiehl, Literaturliebhaber, Erwachsenenbildner, Alleinunterhalter, Geschichtenerzähler, Buchkabarettist, Literaturpädagoge, One-Man-Literature-Band, Märchenonkel, Performer, Verlagskenner, Literaturcomedian.
Und es war wie immer bislang. Der feine Vortragssaal der Stadtbücherei rappelvoll, ausverkauft bis auf den letzten Platz. Wie immer. Die Literaturliebhaber aus Dellmannstadt gaben sich ein Stelldichein. Wie immer. Sehr viel mehr Frauen als Männer, wie immer. Mehr Ältere als Jüngere, wie immer. Die Journalisten der Lokalzeitungen abwesend, wie immer.
Eingeladen hatten Kathrin Ludwig, die pfiffige Leiterin der Stadtbücherei, und die umtriebige Buchhändlerin Gabi van Wahden.
Beim letzten Mal, im April diesen Jahres, war Altwicker noch unsicher angesichts der selbstverschuldeten Nöte der schwedischen Akademie, die alljährlich als Jury die Literaturnobelpreisträger auslobt. Die Beschreibung der Akademie-Affaire um Belästigung, Korruption und Geheimnisverrat endete in der eher bangen Spekulation, ob wir denn in diesem Jahr überhaupt einen Literaturnobelpreisträger zu Gesicht bekommen würden. Und? Altwicker sollte Recht behalten. Es gibt keinen Nobelpreis für Literatur in diesem Jahr, keinen Preisträger – und vermutlich auch keine Akademie mehr, die den Preis ausloben könnte.
Gestern Abend begann der muntere Parforceritt quer durch den Literaturbetrieb bei einer Zeitungsmeldung, nach der die Kinder die deutsche Schriftsprache besser erlernen, die nach der sogenannten „Fibel-Methode“ unterrichtet wurden, als jene Kinder, denen man das Lesen und Schreiben mit der Methode „Schreiben nach Gehör“ oder „Schreib, wie Du sprichst“ beizubringen versuchte. Altwickers Assoziationskette führte zu Konrad Duden, der 1871 der ersten Aufsatz zur einheitlichen deutschen Rechtschreibung verfaßt, über Bismarck, der 1901 einen Erlaß zur Rechtschreibung aller deutschen Behörden und Beamten vorgelegt hatte, bis zur Reflexion darüber, daß „auf dem Dorf“, dort, wo Altwicker selbst groß geworden ist und lesen und schreiben gelernt hatte, ob auf dem Dorf also, ohne große störende mediale und andere Einflüsse, mit Kindern, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Schichtung kaum voneinander unterschieden, ohne nennenswerte Migrantenkinderanteile nicht alle Kinder nach jeder Methode sicher hätten lesen und schreiben lernen können. „Übung macht den Meister.“ Mit einer Floskel beendete Altwicker die mäandernd-unterhaltsame Einleitung seines bunten Literaturabends.
Neun Bücher hatte sich Mike Altwicker für den Abend vorgenommen:
Eine fantastische Expedition in die sonderbare Welt der Blumen: Spektakulär und herzergreifend.
Blumensammler (The Long Forgotten) von David Whitehouse, Klett-Cotta Verlag, Gebunden mit Schutzumschlag, 346 Seiten, 978-3-608-50373-9, € 20,00
Die Mutter des Autoren hatte als Reinigungskraft in einer öffentlichen Bibliothek gearbeitet, so daß er sich als Kind häufiger unter den Tischen dieser Bibliothek herumgetrieben habe. Wegen einer „3“ in Lesen im dritten Schuljahr hatte ihm seine Tante wohl nicht mehr die Hand gegeben: „Der Junge kann nicht lesen.“
Laugh or Love? Die große Kunst der Dialoge:
Junger Mann von Wolf Haas, Hoffmann und Campe, 240 Seiten, Pappband mit Schutzumschlag, 978-3-455-00388-8, € 22,00
Es folgte, angeregt von den bisherigen Büchern des Autoren, ein Exkurs über Marktgefälligkeit. Donna Leon etwa bediene den Markt. Er, Altwicker, wolle indes keine Rezepte des Commissarios Brunetti mehr lesen. Oder: Er, Altwicker, freue sich über jeden isländischen Roman, in dem keiner mehr sterbe.
Eine beängstigende Dystopie:
Nanos – Sie bestimmen, was du denkst von Timo Liebig, Random House GmbH, Paperback, Klappenbroschur, 512 Seiten, 978-3-7645-3190-4, € 16,00
Es geht um Nanoteilchen im Trinkwasser, mit denen die Mehrheit der Bevölkerung hörig gemacht wird, willenlos. Nur noch wenige Menschen sind „free“, also resistent. Unter ihnen der Sträfling Malek, der nur eines will: überleben. Wäre da nicht das Versprechen, das er seinem Freund auf dessen Totenbett gegeben hatte. Aber weiter als bis zum Totenbett erzählte Altwicker natürlich nicht.
Und dann mal Wieder ein Exkurs. Über Wissenschaftsautoren, die nicht wissen, was sie schreiben sollen, und nicht wissen, was sie weglassen sollen. Man konnte den Namen Schätzing hören.
Das schönste an diesem Buch sind die schweigenden Momente, wenn Sie die Welt nur durch das Zwitschern der Vögel wahrnehmen:
Das Vogelhaus von Eva Meijer, btb Verlag, Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 978-3-442-75794-7, € 20,00
Es geht um das Leben der Ornithologin Len Howard, die die zweite Hälfte ihres Lebens in einem abgelegenen Haus in Südengland verbringt und dort erfolgreiche Bücher über Vögel veröffentlicht. Die faszinierende Lebensgeschichte einer zu Unrecht vergessenen Tierforscherin.
Uns gehört die Nacht von Jardine Libaire, Diogenes Verlag, Paperback, 464 Seite, 978-3-257-30072-7, € 16,00
Eine obsessive Affaire wird zur alles bestimmenden Liebe. Sie arm, ohne Schulabschluss, vaterlos, Halb-Puerto-Ricanerin. Er Erbe einer sagenhaft reichen Familie von Investmentbänkern.
Eine lakonisch-melancholisches Lob des November:
Nenn mich November von Kathrin Gerlof, Aufbau Verlag, Gebunden mit Schutzumschlag, 350 Seiten, 978-3-351-03723-9, € 20,00
Eine Frau zieht aufs Land, in ein brandenburgisches Dorf. „Im Dorf gibt es kein Begehren mehr.“ Alte Vorurteile und neue Ängste paaren sich angesichts der Fremden, die kommen, der Flüchtlinge.
Zwei Geschwister werden nach Kriegsende in London von ihren Eltern verlassen. Wer sind die Eltern? Die Suche nach Vater und Mutter wird verwoben in eine Geschichte des Kalten Krieges, eine Geschichte von Spionage. Wieviele Geheimnisse verträgt ein Leben?
Kriegslicht von Michael Ondaatje, Hanser Verlag, Fester Einband, 320 Seiten, 978-3-446-25999-7, € 24,00
Kann man ein gefeierter Künstler und zugleich liebender Vater sein? Ein Roman über das Streben nach Anerkennung – vom Leben und in der Kunst
Die Gesichter von Tom Rachmann, dtv Literatur, 416 Seiten, 978-3-423-28969-6, € 22,00
Das Debüt einer deutschen Autorin, der Roman einer Historikerin, keine Krimispannun, erzählt aus der Innensicht der Figuren.
Cambridge 5 – Zeit der Verräter von Hannah Coler, Limes Verlag, Gebunden mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 978-3-8090-2682-2, € 19,99
Nach drei Stunden war der große Buchmonolog beendet. Weil Mike Altwicker einsah, daß Gabi van Wahden und Kathrin Ludwig endlich Feierabend brauchten.