DIE OSANNA-GLOCKE

Ein Wort zum Montag, dem 30. Oktober 2023

VON CORNELIA SENG

Noch sehe ich ihn vor mir, den älteren Herrn. Wir saßen nach dem Gottesdienst in unserem Wohnzimmer zum Gespräch zusammen. Mit einer Gemeindegruppe aus England war er zu Besuch in unserem Kirchenkreis. Plötzlich erhob er sich vom Sofa und hielt eine Rede. Sichtlich gerührt sagte er: „Ich hätte nie gedacht, noch einmal mit Deutschen zusammenzusitzen.“ Das war in den achtziger Jahren. Die Bombardierung der englischen Stadt Coventry durch Nazi-Deutschland war etwa vierzig Jahre her. Deutschland hatte England angegriffen.

Heute am Abend des 22. Oktobers 2023 liegt der volle, tiefe Ton der Osanna-Glocke der Martinskirche über der Stadt Kassel. Sie erklingt während des Gedenkgottesdienstes zur Zerstörung Kassels vor achtzig Jahren. Der Feuersturm hatte die Innenstadt nahezu komplett zerstört. Damals stürzte auch die schwere Osanna-Glocke in die Tiefe. 1961, zwei Jahre nach dem Wiederaufbau der Kirche wurde sie erneuert. Seitdem klingt sie alleine nur zu bestimmten Anlässen wie heute zum Gedenken an die Bombennacht. “Kassel weiß, was Krieg bedeutet“, steht unter der Einladung zu diesem Gottesdienst. 

Weiß Kassel noch, was Krieg bedeutet? Wissen wir heute noch, was Krieg bedeutet?

Nach der Zerstörung der Kathedrale von Coventry durch deutsche Bombenangriffe am 14./15. November 1940 ließ der damalige Dompropst Richard Howard die Worte „Vater vergib“ in die Chorwand der Ruine meißeln. Aus herabgefallenen großen Dachnägeln formte er ein Kreuz, ein „Nagelkreuz“. Dieses Symbol ist um die Welt gegangen. Coventry ist zu einem Ursprungs-Ort der Versöhnung geworden. In der ganzen Welt gibt es „Nagelkreuz-Zentren“. Auch die Martinskirche hat sich beworben, ein solches Zentrum der Versöhnung zu werden.

In den „Nagelkreuz-Zentren“ wird an jedem Freitag um 12 Uhr gebetet: 

Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse,  VATER VERGIB.

Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist, VATER VERGIB.

Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet, VATER VERGIB. 

Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen, VATER VERGIB. 

Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge, VATER VERGIB.

Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht, VATER VERGIB.

Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott, VATER VERGIB.“

Vater vergib uns als Menschheitsfamilie. Wir alle haben versagt. 

Mit dieser Einsicht und dem Bekenntnis der eigenen Schuld beginnt Versöhnung. Haben wir gut genug zugehört und hingesehen auf das Leid der Menschen in Palästina? Auf die Angst der Juden in unserem Land und auf die Bedrohung in Israel? 

Das Gebet schließt mit dem Hinweis auf eine Bibelstelle (Rö 3, 23):

Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. 

Ob eines Tages Palästinenser und Israelis, Russen und Ukrainer in Frieden auf einem Sofa sitzen werden? Wer von ihnen dann wohl aufsteht und eine Rede hält? 

Die farbig angestrahlte Martinskirche in Kassel in der Nacht des Gedenkens der Zerstörung am 22. Okt. 2023.

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