„Lafayette, wir sind hier“

Buchtipp: Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch

VON WOLFGANG HORN

Zwanzig Minuten, allenfalls eine halbe Stunde kostet es, sich durch die 30 Seiten des bei Luchterhand erschienenen Bändchens des Juristen, Medienprofis und Publizisten Ferdinand von Schirach zu lesen. Dabei nimmt es seinen Ausgang bereits 1776 mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und 1789 bei der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich und landet endlich in der Neuzeit, bei den dräuenden Problemen der Gegenwart, der Klimaänderung, der Globalisierung, der Digitalen Welt.

Die Menschenrechtsdeklarationen der amerikanischen und der französischen Revolutionen im 18. Jahrhundert waren Utopien und wurden, so Schirach, erkämpft gegen absolutistische Monarchen und eine ständische Gesellschaftsordnung, die den Kontrast bildete, den Rahmen für die Freiheitsrechte unter Gleichen, wie sie in den utopischen Erklärungen postuliert worden waren. Vom Marquis de Lafayette etwa, General im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an Washingtons Seite, der später für die französische Nationalversammlung die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen entwarf. Ein Jahrhundert später kämpften im Ersten Weltkrieg amerikanische und französische Truppen gegen die Deutschen. Ein US-Oberst trat seinerzeit, der Schirachschen Überlieferung zufolge, an Lafayettes Grab, salutierte und sagte: „Lafayette, wir sind hier“.

Eine schöne Geschichte von der Universalität der Menschenrechte und ihrer historischen Geltung in nachgerade allen Epochen und allen unterschiedlichen Ausprägungen menschlicher Gesellschaftsformationen. Die Menschenrechte, als Utopie entstanden, hätten die Grundsteine für die moderne Gesellschaft gelegt. Heute aber stünden „wir“ vor ganz neuen Herausforderungen, Globalisierung, Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, Klimawandel, weshalb laut Schirach neue, zusätzliche Menschenrechte erforderlich seien: Die Rechte auf gesunde Umwelt, auf digitale Selbstbestimmung, auf Schutz vor Algorithmen und Fake News und auf eine von Menschenrechtsverletzungen freie Lieferkette, allesamt einklagbar vor dem Europäischen Gerichtshof.

Der Mann, der seine Prominenz laut dem Rezensenten Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung ebenso seinen True-Crime-Geschichten wie einem NS-Verbrecher als Großvater verdankt, dem Reichsjugendführer der NSDAP und dem als Kriegsverbrecher verurteilten Baldur von Schirach, findet mit seiner Forderung keinen ungeteilten Beifall. Man könne nicht im Alleingang in Europa eine neue Grundrechte-Charta schreiben. Da wird das Schirachsche Pathos kritisiert, mehr noch: ins Spektakelhafte gleite das Manifest ab, wenn man auf einer dazugehörigen Webseite die Schirachschen Grundrechtsforderungen unterschreiben könne. In Europa brauche man einen etwas aufwändigeren Angang als ein bisschen TV-Marketing, heißt des an anderer Stelle. Und schließlich die Mahnung, anmaßenden und nostalgischen Kitsch zu produzieren, wenn man aufrufe, seit 200 Jahren toten amerikanischen und französischen Revolutionären nachzueifern. 

Jenseits dieser Skepsis, jenseits des im Bändchen geforderten QR-Code- und Internetaktivismus, bleibt es eine beachtliche Anregung, sich mit den beschriebenen Feldern für neue Menschen- und Grundrechte und den Möglichkeiten ihrer politischen Realisierung im Raum der europäischen Institutionen zu befassen. Zieht man den egomanischen Aspekt ab, den Public-Ralations-Charakter, den namentlichen Anteil, haben wir eine knappe Grundüberlegung, warum und wie sich unsere Arbeits- und Lebensweise verändern sollte und die soziale Schichtung der zivilisierten Gesellschaft. Fünf Euro, die gut investiert sind. In eine Anregung.

Ferdinand von Schirach • Jeder Mensch • Luchterhand • Fester Einband • 32 Seiten • ISBN:9783630876719 • 5 Euro • auch als E-Book erhältlich

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