Interdisziplinäre Kooperation an der Bergischen Universität beschäftigt sich mit der nachhaltigen Verarbeitung von Apfeltrester
Ein Interview mit Prof`in Dr. Claudia Bohrmann-Linde, Prof. Dr. Guillaume Delaittre, Prof. Dr. Stefan F. Kirsch und Prof. Dr. Nils Helge Schebb.
VON UWE BLASS
Das Projekt mit dem Namen “Chemistry of and with Food Loss from Apples” (Chemie von und mit Lebensmittelverlusten aus Äpfeln) ist ein inneruniversitäres Kooperationsprojekt, an dem neben der Didaktik der Chemie, die Lebensmittelchemie und die Organische (Polymer) Chemie beteiligt sind. Das gemeinsame Ziel ist, Food Loss (Lebensmittelverluste) zu reduzieren, indem aus Apfeltrester oder selektiven Bestandteilen Werk- oder Wirkstoffe synthetisiert werden, was auch die Entwicklung von Analysestandards und die Untersuchung der Biokompatibilität mit sich bringt.
Der Apfel ist mit Abstand des Deutschen liebstes Obst. Kann man das auch in Zahlen benennen?
Claudia Bohrmann-Linde (Didaktik der Chemie): Laut Statista haben die Deutschen im Jahreszeitraum 2021/2022 pro Kopf 22,4 kg Äpfel konsumiert. Das ist fast doppelt so viel wie der Verbrauch an Bananen, die das zweitliebste Obst der Deutschen darstellen. Außerdem wurden 2022 in Deutschland 630 Millionen Liter Apfelsaft hergestellt. Mit Blick auf die Apfelsorten kann man sagen, dass die Sorte Elstar mit einem Anteil von knapp 19% Prozent die beliebteste Apfelsorte in Deutschland ist. Sie ist übrigens aus dem Golden Delicious hervorgegangen und wird inzwischen in Deutschland am häufigsten angebaut.
Im Apfel stecken jede Menge Mineralstoffe und Vitamine. Man sagt: „An apple a day keeps the doctor away“. Welche Rolle spielt der Apfel in Ihrem Speiseplan?
Nils Helge Schebb (Lebensmittelchemie): Tatsächlich zeigen etliche epidemiologische Studien, dass Obst und Gemüse wirklich gesund sind. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt deshalb, fünf Portionen am Tag zu sich zu nehmen. In meiner Familie steht daher täglich viel Obst und Gemüse auf dem Speiseplan und wir sind froh, hier in Wuppertal so gute Äpfel auch aus regionalem Anbau kaufen zu können.
Allerdings sollte man es mit den schönen Sprichwörtern zum Thema Ernährung nicht übertreiben. Mit einer „guten“ Ernährung können wir uns statistisch vielleicht 3–4 Lebensjahre mehr in guter Gesundheit ermöglichen, Krankheit und Tod aber nicht verhindern. Deshalb sollte man vor allem am Leben – und so auch an leckeren Lebensmitteln und Gerichten – Freude haben.
In der Industrie entstehen bei der Verarbeitung von Äpfeln enorme Abfallmengen. Diese Apfelreste werden als Abfall entsorgt. Das ist im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte ziemlich unverantwortlich, denn diese Reste könnten recycelt werden. An der Bergischen Universität hat sich eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit der sinnvollen Verwertung von Apfelresten, dem sogenannten Apfeltrester, beschäftigt. Welche Wissenschaftler:innen und Wissenschaftler aus welchen Fächern sind denn daran beteiligt und wie kam es zu diesem Zusammenschluss?
Stefan F. Kirsch (Organische Chemie): Vor dem Hintergrund, dass weltweit Millionen an Menschen unter Hunger leiden, ist jede Art der Verschwendung von Lebensmitteln problematisch. Es gehen aber nicht nur die Lebensmittel selbst verloren, sondern auch die zahlreichen Ressourcen, die für ihre Herstellung verwendet wurden, sind letztlich für Nichts investiert worden.
Auch für die Produktion von Lebensmittelabfällen wurden zunächst einmal ja landwirtschaftliche Flächen belegt; Wasser, Düngemittel und weitere Technologien, die Umwelt und Klima belasten, wurden eingesetzt. Vor diesem Hintergrund ist die sinnvolle Verwertung aller Lebensmittelabfälle Teil einer weltweiten Strategie für mehr Nachhaltigkeit, in der der angesprochene Apfeltrester nur ein kleines Rädchen ausmacht, aber eines das deutschlandweit und regional im Bergischen Land durchaus bedeutsam sein kann.
Wir betrachten die Abfälle der Apfelwirtschaft zunächst mit der Brille der Chemie. Welche chemischen Verbindungen, die die Natur uns in den Apfelabfällen hinterlassen hat, liegen eigentlich vor? Können wir uns diese Verbindungen nutzbar machen? Vielleicht als Feinchemikalien jenseits der klassischen Petrolchemie? Oder als Bausteine für Wirkstoffe oder neue Materialien? Und können wir die junge Generation durch geschickte Experimente dazu bringen, schon früh in der Schule ein Gespür für den Wert von Lebensmittelabfällen zu entwickeln? Bei all diesen Fragestellungen braucht es ein breites Team aus Chemiedidaktikern, Lebensmittelchemikern, Organischen Chemikern und Polymerchemikern. Ich bin sehr froh, dass wir ein so tolles Team aus derzeit acht Personen gefunden haben, das vertrauensvoll und voller Begeisterung diese wichtige Forschungsfrage gemeinsam angeht. Claudia, Guillaume, Nils und ich sind uns jedenfalls einig, dass wir an der Bergischen Universität genau das richtige Forschungsumfeld haben, um in Zukunft noch viel bewegen zu können. Und vielleicht entwickelt sich hieraus ja auch ein Thema, das auch jenseits der Chemie Interesse erzeugt.
Jedes Jahr werden 70 Millionen Tonnen Äpfel weltweit geerntet und 250.000 Tonnen Apfeltrester werden allein in Deutschland erzeugt. Apfeltrester enthält eine Vielzahl an wertvollen Komponenten. Welche sind das denn z.B.?
Bohrmann-Linde: Da es sich beim Apfeltrester um die Pressrückstände aus der Saftproduktion handelt, findet man auch viele Inhaltsstoffe aus der Schale und den Kernen im Trester. Vor allem sind zu nennen verschiedene Kohlenhydrate wie Cellulose und Hemicellulose, aber auch Lignine, Stärke und Pektine, wobei letztere Geliereigenschaften haben. Dann gibt es weitere Stoffe wie die antioxidative wirksamen Flavonoide und verschiedene Triterpenoide wie Betulinsäure, Öleanolsäure und Ursolsäure, die für weitere Synthesen interessant sind.
Im Unterschied zu Lebensmittelresten im Haushalt können Lebensmittelreste aus der Industrie besser recycelt werden. Warum ist das so?
Guillaume Delaittre (Organische Funktionsmoleküle): Zunächst einmal ist es interessant festzustellen, dass die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zwischen Lebensmittelverlusten und Lebensmittelverschwendung unterscheidet, je nachdem, in welchem Stadium die Lebensmittel vom klassischen Weg, d. h. vom Produktionsort (z. B. Bauernhof) bis zum Verdauungstrakt des Verbrauchers, entfernt werden. Geschieht dies, bevor sie den Lebensmittelhandel oder das Restaurant erreichen, spricht man von Lebensmittelverlusten (food loss). Geschieht dies danach, spricht man von Lebensmittelverschwendung (food waste). Um die Wiederverwertung zu erleichtern, sollte die nicht verzehrte Lebensmittelmasse reproduzierbar sein, nicht unkontrolliert abgebaut werden und möglichst bereits aussortiert sein. Vor-Verbraucher-Quellen, wie z. B. aus der verarbeitenden Lebensmittelindustrie, erfüllen diese Anforderungen gut und liefern generell große Mengen.
Apfeltrester beispielsweise ist ein Rückstand aus dem Pressvorgang bei der Herstellung von Saft, Cidre, Wein, Spirituosen, Essig und Gelee und macht etwa ein Drittel des Gewichts der Apfelfrucht aus. Für einige Verwendungszwecke sind Lebensmittelverluste völlig in Ordnung, z. B. bei Verfahren, bei denen sie karbonisiert werden. Betrachtet man jedoch feinere Anwendungen, bei denen es vor allem darum geht, bestimmte Moleküle zu extrahieren, um sie chemisch zu analysieren, strukturell zu modifizieren oder neue Materialien zu schaffen, ist das food loss viel besser geeignet.
Wo und wie kann man denn die Reste des Apfels sinnvoll nutzen?
Kirsch: Derzeit wird Apfeltrester in der Hauptsache als ballaststoffreiches Futter für Nutztiere wie Kühe eingesetzt. Alle weiteren Anwendungen – sei es in der Imkerei oder bei der Jagd – sind eher unbedeutend. Es ist also absolut sinnvoll, die Inhaltsstoffe des anfallenden Apfeltresters nutzbar zu machen. Pektin als Geliermittel liegt da auf der Hand und wird aus dem Apfeltrester über verschiedene Verfahren auch schon erfolgsversprechend gewonnen. Wir fokussieren uns allerdings auf die Nutzbarmachung von kleineren, hochspezifischen Komponenten wie Triterpenoiden, deren Potenzial noch gar nicht abzusehen ist.
Kaum vorstellbar, aber Apfelreste kann man sogar für die Modeindustrie nutzen. Kaktus-, Ananas-, Pilz- und auch Apfellederprodukte rücken in Zeiten von Nachhaltigkeit immer mehr in den Fokus. Ein italienisches Unternehmen in Bozen macht es bereits vor. Es verwendet bei der Apfellederherstellung einen biologisch abbaubaren Kunststoffersatz auf Basis von Milcheiweiß, der voll recycelbar ist. Kann so ein Beispiel Schule machen?
Bohrmann-Linde: Man kann ein ganz einfaches, allerdings nicht länger stabiles Apfelleder sogar im Chemieunterricht in der Schule machen! Dazu gibt es ganz viele Rezepte, denn hier geht es eher um einen Snack. Für Anwendungsprodukte kann man aus Apfeltrester robustes Apfelleder herstellen, das mechanisch belastbar und flexibel ist. Es zählt zu den veganen Ledervarianten und wird u.a. für manche Schuhe oder Taschen verwendet. Bei der Herstellung wird die Biomasse allerdings in der Regel mit einem Kunststoff, z.B. Polyurethan, als Bindemittel vermengt und das Ganze wird dann auf eine Unterfläche aus Baumwolle aufgetragen. Polyurethan kennt man von Schaumstoffmatratzen oder Bauschaum. Es ist nicht biologisch abbaubar und reichert den Berg an Plastikmüll weiter an. Die in der Frage angesprochene Variante mit Milcheiweis wird mit der Intention entwickelt, tatsächlich ein biologisch abbaubares veganes Leder zu erhalten. Diese Art von Apfelleder befindet sich allerdings noch im Entwicklungsstadium. Bei den biologisch abbaubaren Kunststoffen muss man nämlich schauen, dass sie während der Nutzung langzeitstabil bleiben und nicht vorzeitig durch äußere Einflüsse abgebaut werden.
Selbst als Kraftstoff taugt der Trester. Ein Team von der TU Bergakademie Freiberg hat ein optimiertes Verfahren vorgestellt mit dem Ethanol mit einem Alkoholgehalt von bis zu sechs Prozent hergestellt werden kann. Ist das vielleicht auch eine zukünftige Bio-Kraftstoff-Quelle?
Schebb: Nebenströme der (Lebensmittel-) Industrie zum einen – wie in unserem Projekt – für die Herstellung wertvoller Synthesevorstufen zu nutzen, aber auch als Quelle von Kraftstoffen zu verwenden, ist vielversprechend. Die derzeitige Praxis, „nachhaltige“ Kraftstoffe bzw. das biologische Material für Biogasanlagen aus Pflanzen zu erzeugen, welche in Konkurrenz zu Lebensmittel liefernden Pflanzen angebaut werden, erscheint mir im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung der steigenden Weltbevölkerung problematisch.
Sie sagen, Sie wollen in dieser Arbeitsgruppe ihre komplementären Expertisen nutzen. Welche sind diese?
Delaittre: Als Hochschullehrer:innen ist es eine unserer Hauptaufgaben, durch Bildung zu den Zielen der staatlichen Organisationen beizutragen, wobei eines der wichtigsten aktuellen Ziele die Errichtung einer nachhaltigen Gesellschaft ist. Wir haben das Glück, dass wir in Wuppertal eine starke Abteilung für Chemieausbildung haben, die von Claudia geleitet wird. In diesem Fall verwendet sie Apfeltrester als biologische Modellquelle, um Schulprogramme auszuarbeiten, die dazu beitragen, das Bewusstsein der jüngeren Generationen für die Problematik der Lebensmittelverluste und -verschwendung zu schärfen und gleichzeitig die Denkweise über die chemische Produktionsweise zu verändern. Gleichzeitig sind wir Forscher und werden durch neue Entdeckungen motiviert. Hier, wie Stefan es betont hat, haben wir hauptsächlich Interesse für die Triterpenoide, die im Apfeltrester in gewissen Mengen vorkommen. Da einige von ihnen bereits für ihre therapeutischen Eigenschaften bekannt sind, befasst sich sein Team mit ihrer strukturellen Veränderung, um möglicherweise noch aktivere Derivate zu entwickeln. In meiner eigenen Gruppe sind wir daran interessiert, diese Moleküle zur Herstellung neuartiger Polymere zu verwenden, die möglicherweise einzigartige Eigenschaften haben. Dies ist auch eine Möglichkeit, die Abhängigkeit von erdölbasierten Chemikalien zur Herstellung von Materialien teilweise zu verringern. Bevor wir all dies tun können, müssen diese Triterpenoide jedoch effizient aus dem rohen Apfeltrester extrahiert und charakterisiert werden. Hier kommt das Fachwissen von Nils und seinem Team ins Spiel.
Nachhaltige Chemie für Mensch und Umwelt wird immer wichtiger. Kann der Apfel da eine entscheidende Rolle spielen?
Kirsch: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da sie einem Blick in die Kristallkugel gleichkäme. Eine wirklich nachhaltige Chemie, die sich von den petrolchemischen Pfaden absetzt, lässt sich nur durch eine Vielzahl kleiner Stellschrauben erreichen, die perfekt ineinandergreifen müssen. Und hier kann der Apfel tatsächlich eine Rolle spielen: Nicht die entscheidende Rolle, aber doch eine, die hilft, unsere Zukunft besser zu gestalten.
Prof`in Dr. Claudia Bohrmann-Linde, Didaktik der Chemie
Prof. Dr. Guillaume Delaittre, Organische Funktionsmoleküle
Prof. Dr. Stefan F. Kirsch, Organische Chemie
Prof. Dr. Nils Helge Schebb, Lebensmittelchemie
Beitragsfoto: Das Apfelprojekt. Von oben nach unten: Prof. Dr. Stefan F. Kirsch (Organische Chemie), Prof. Dr. Nils Helge Schebb (Lebensmittelchemie), Prof`in Dr. Claudia Bohrmann-Linde (Didaktik der Chemie), Prof. Dr. Guillaume Delaittre (Organische Funktionsmoleküle), Michelle Wiebel (Lebensmittelchemie), Kathrin Bensberg (Organische Chemie), Dr. Rebecca Grandrath (Didaktik der Chemie) und Till Jessewitsch (Organische Funktionsmoleküle) © UniService Transfer