Ein Wort zum Montag, dem 3.Juni 2024
VON CORNELIA SENG
Mitten in Weimar, am Frauenplan, steht an der Giebelwand eines Hauses ein Spruch. Wenn man zu „Goethes Wohnhaus“ will, kommt man daran vorbei:
„Wenn Sie das
Leben kennen, geben Sie
mir doch bitte seine Anschrift.“
JULES RENARD (1864-1910)
Jules … wer? Ich muss googeln: Französicher Schriftsteller und Autor. Er wurde mit einer Sammlung von Aphorismen bekannt. Auf den ersten Blick klingt der Spruch witzig und geistreich. Doch was will er sagen? Kennt der Autor das Leben selber nicht? Hat er nie die Waldluft nach einem Regenguss im Sommer geatmet? Hat er nie ein Fohlen auf der Weide beobachtet? Oder sich an spielenden Kindern erfreut?
Wer hat entschieden, dass der Spruch heutzutage und mitten in Weimar groß an einer Hauswand steht? Der Stadtrat oder eine Kulturstiftung? War es der Eigentümer des Hauses? Hat er denn das Leben in der Stadt nicht im Blick? Schiller und Goethe haben hier ge-lebt, Herder. Nietzsche ist hier gestorben. Die „Weimarer“ Republik wurde gegründet. Die Stadt ist voll von gelebtem Leben. Menschenleben.
Ich habe mir in dieser Woche die Ausstellung „Bauhaus und Nationalsozialismus“ angesehen. Das „Bauhaus“ war eine Hochschule für Kunst, Design und Architektur, gegründet 1919. Wegen Schikanen der Nazis mussten sie schon 1925 Weimar verlassen und in Dessau weitermachen, 1932 dann noch in Berlin. Wo die Schule schon ein Jahr später geschlossen wurde. Die Werke vieler Bauhaus-Lehrer standen auf der Liste der „entarteten Kunst“ in der Nazi-Zeit. Viele „Bauhäusler“ konnten Deutschland rechtzeitig verlassen. Franz Ehrlich nicht. Er wurde inhaftiert. Als Zwangsarbeiter im KZ Buchenwald hat
er das Tor geschmiedet. In Weimar ist es jetzt ausgestellt. „JEDEM DAS SEINE“ steht da. Ein zynischer Spruch. Von den gut 1200 Studierenden des Bauhauses konnten aber etliche auch unbehelligt oder angepasst durch die Nazi-Zeit kommen. Das alles waren LebensGeschichten und LebensWege.
Wer immer den Spruch an die Hauswand des Giebels schreiben ließ: Kennt er sie nicht, diese Lebensgeschichten, oder will er darin das Leben nicht sehen?
Kann man überhaupt über „das Leben“ reden, ohne Lebensgeschichten zu erzählen?
Christen erzählen die Geschichte von Jesus, weil sie in ihm das Leben sehen. So wie Jesus kann man leben, voll Vertrauen in Gottes Liebe.
Ein reicher junger Mann hat mal Jesus gefragt: „Meister, was muss ich tun, damit ich das echte Leben finde?“ Zunächst hat Jesus ihn an die Zehn Gebote erinnert. Aber das ist noch nicht alles. „Es fehlt dir noch eins. Verkaufe alles, was du hast und gib‘s den Armen und folge mir nach“, sagte ihm Jesus. Also – leb im Vertrauen auf Gott und vertrau nicht auf deinen Reichtum. Als der junge Mann das hörte, wurde er traurig, denn er war sehr reich. Die Geschichte steht im Lukasevangelium (18,18-27).
Wohlstand kann Leben verhindern. Im Reichtum wohnt das Leben nicht.
„Wenn Sie das Leben kennen, geben Sie mir doch bitte seine Anschrift“, lautet der Spruch an der Hauswand in Weimar.
Jesus hat dem jungen Mann die Anschrift gegeben. Aber wer sie kennt, muss sie aufsuchen, klingeln und eintreten. Und in dieser Wohnung bleiben. Und leben im Vertrauen auf den, der hier wohnt.