Organisierte Verrohung

VON WOLFGANG HORN

Jede Schmähung, jede Beleidigung einzelner Politiker oder ihrer Helfer, in Wahlkampfzeiten und danach, beleidigt und schmäht alle demokratischen Parteien, all ihre Mitglieder und Helfer. Jeder Angriff, jeder Tritt, jeder Stoß gegen Menschen, die Plakate aufhängen, Flugblätter verteilen oder an einem Infostand über Programme und Kandidaten informieren, verletzt nicht nur die einzelnen Menschen, sondern sind Gewaltakte gegen die Verfassung und verfassungsrechtlich und gesetzlich geschützte Einrichtungen und Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaates. Wer Wahlkämpfer verprügelt, verprügelt alle Demokraten, Dich und mich; wer gegen Parteien und Parteimitglieder hetzt, vergeht sich an der demokratischen politischen Kultur in der Gesellschaft. 

Das alles ist durch nichts zu rechtfertigen. Keine Wahl und kein Wahlkampf gestatten es, die Grenzen der Gesetze zu brechen, die Grenzen des Anstands zu unterschreiten, den Respekt vor dem Anderen aufzugeben, Gewalt auszuüben. Daß dies in diesen Zeiten immer wieder betont werden muß, hat viel damit zu tun, daß seit einigen Jahren, vielleicht seit dem ersten größeren Zuzug von Flüchtlingen in unserem Land und gewiß in der Corona-Krise von bestimmten Kräften, Rechtspopulisten und rechten Extremisten systematisch die Grenzen des Sagbaren in den Bereich sprachlicher Verhetzung hinein verschoben worden sind. Es findet seither eine systematische, organisierte Verrohung statt. 

Wenn Menschen, wie der Ehrenvorsitzende der AfD formuliert hatte, „entsorgt“ werden müssen, wenn politische Parteien „gejagt“ werden sollen, wenn man sich die Demokratie „zurückholen“ müsse, wie es der Bruder von Helmut Aiwanger häufiger in bayerischen Bierzelten zu formulieren pflegt, wenn politische Gegner zum „Feind“ werden oder, hier in Wermelskirchen, zum „feigen Gesindel“, statt Konkurrent im demokratischen Wettbewerb zu sein, wenn bei Demonstrationen Galgen gezeigt werden, an denen Menschen oder Parteien aufgeknüpft werden können oder sollen, wenn Minister, Kanzler oder andere Repräsentanten des Landes in Sträflingskleidung dargestellt werden, dann ist das der Dünger, auf dem Gewalt gediehen ist. Die aktuellen Gewaltakte gegen Wahlkämpfer, die Gewalt gegen kommunale Eliten wie seinerzeit das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Reker oder wie der Mord am hessischen Regierungspräsidenten Lübcke. 

Gewalt hat Ursachen. Es war eben nicht nur geschmacklos und unanständig, sondern eher justiziabel und hat jedenfalls Folgen und Wirkungen, wenn etwa 2018 ein Satz unter voller Namensnennung geschrieben wurde, der da lautet: „Wenn zwischen der Stoßstange und der Wand Merkel, Roth und Konsorten kleben, ist das ein prima Kurs.“ Es sind eben nicht nur die erklärten Faschisten und Rechtsextremisten, denen die Verantwortung für die sprachliche und moralische Verrohung zukommt. Teile der rechtsbürgerlichen Kreise haben sich an der Unterminierung der Unterscheidbarkeit von Unsäglichem und Unsagbarem von scharfer, aber zulässiger Kritik, austragbarem Dissens beteiligt.

Die Unterschiede der politischen Lager im demokratischen Spektrum sind zu klein, als daß sie mit Hetze und Drohungen, sprachlicher Rohheit und körperlicher Gewalt auszutragen wären. Der Schulterschluß der Demokraten ist nicht nur nicht ehrenrührig, er ist geboten. Die Wahlen zum Europaparlament, der Wettbewerb demokratischer Parteien leidet nicht unter dem gemeinsamen Einstehen für die Einhaltung der Gesetze und politischen Regeln sowie dem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit.

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