Schicksalstag

VON WOLFGANG HORN

Am 9. November 2013, vor zehn Jahren, habe ich in meinem Blog „Widerwort“ zusammengestellt, was sich in der jüngeren deutschen Geschichte an einem 9. November zugetragen hat. Seit dem Mauerfall wird der 9. November nicht selten als deutscher „Schicksalstag“ bezeichnet. Zu Recht?

Neunter November. Von vielen wird er “Schicksalstag” geheißen. Ich habe keine Ahnung, was ein Schicksalstag denn wirklich sein könnte. Auffallend ist nur, daß an eben jenem neunten November ganz unterschiedliche, aber bedeutsame Ereignisse in Deutschland stattfanden. Den meisten dürfte der “Mauerfall” vor vierundzwanzig Jahren noch erinnerlich sein. “Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich.” Günter Schabowski löste, mit und trotz verschrobener Syntax, dieses Ereignis aus und auch den Taumel hernach. Kaum mehr im Bewusstsein der Deutschen dürfte hingegen sein, daß heute vor einhundertfünfundsechzig Jahren, achtzehnhundertachtundvierzig, Robert Blum standrechtlich erschossen worden ist. In Wien. Der Kölner Robert Blum war Abgeordneter des ersten demokratischen deutschen Parlamentes, der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, und einer der Führer der bürgerlichen Revolution im Frühjahr achtzehnhundertachtundvierzig, der Märzrevolution. Die Hinrichtung von Robert Blum in Wien durch die reaktionäre Regierung Österreichs unter Bruch der parlamentarischen Immunität ist ein entscheidendes Ereignis auf dem Weg zur Niederlage dieser ersten bürgerlichen Revolution in Deutschland. Siebzig Jahre später, neunzehnhundertachtzehn, ruft am neunten November der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstagsgebäude aus die “deutsche Republik” aus, weil der Krieg verloren war und die Monarchie nicht mehr zu retten, nachdem der Kaiser abgedankt hatte. Stunden später ist der gleiche Reichstag die Tribüne für Karl Liebknecht vom Spartakusbund, die “freie und sozialistische Republik Deutschland” auszurufen. Der in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannte Parteichef der NSDAP, Adolf Hitler, und der national-völkische Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff scheitern mit einem Putschversuch vor der Münchner Feldherrnhalle. Nach nur wenigen Stunden. Sechzehn Menschen ließen an diesem neunten November neunzehnhundertdreiundzwanzig in München ihr Leben. Nur fünfzehn Jahre später erleben Berlin und ganz Deutschland am neunten November die antjüdische Progromnacht, verharmlosend als “Reichskristallnacht” bekannt geworden. Im ganzen Gebiet des Deutschen Reiches wurden jüdische Geschäfte demoliert und Synagogen in Brand gesteckt. Hunderte Juden wurden innerhalb weniger Tage ermordet. Der neunte November ist Auftakt der offenen Verfolgung der Juden bis hin zum systematischen Holocaust. Und schließlich wird am neunten November neunzehnhundertdreiundfünfzig in Hamburg der Deutsche Kinderschutzbund gegründet und entwickelt sich in den folgenden sechzig Jahren zur bedeutendsten Lobbyorganisation für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Der neunte November. Ein Schicksalstag? Ein Schicksalstag.

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

    • Kutscherauer, Timo
    • 14.11.23, 6:37 Uhr

    Sehr geehrter Herr Horn

    haben Sie das Buch: Digitale Mehrzugsteuerung, Bechtermünz Verlag, geschrieben? Ich such den Autor des Buches, da ich noch ein paar fragen dazu habe.
    Mit freundlichen Grüßen
    Timo Kutscherauer

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