Zum Leben locken

Ein Wort zum Montag, dem 28. Februar 2022

VON CORNELIA SENG

Die Erschütterung spüre ich heute noch. Obwohl das Ereignis schon über vierzig Jahre her ist. Es war bei einem Beerdigungsbesuch, den ich als junge Pfarrerin machte. Ich saß neben der Tochter. Ihre Mutter hatte sich auf grausame Art selbst getötet. Was ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Das Grauen, die Macht des Todes, war überwältigend.

In Kassel gibt es das Museum für Sepulkralkultur, ein Museum für Grab- und Bestattungskultur. Vor genau dreißig Jahren wurde es eröffnet. Es ist das einzige Museum dieser Art weltweit. Mit immer wieder neuen Ausstellungen hat es die Museumsleitung verstanden, das Thema Tod und Sterben ins Gespräch zu bringen. Aktuell mit der Ausstellung „Suizid – Let’s talk about it“. – Was erwartet mich da?

Die Ausstellung beginnt mit Fakten und befasst sich mit Religion, Kunst und Kultur. Aus vielen Blickwinkeln wird das Thema Suizid beleuchtet. Im Christentum habe es über lange Zeit geheißen „das darf man nicht“, erfahre ich auf einer der Tafeln. Das Thema wurde „totgeschwiegen“. Totschweigen war bestimmt nicht der richtige Weg. Also darüber reden! So wie es die Ausstellung anregt. Mir kommt eine Szene aus dem Luther-Film in den Sinn, den ich in der Schule oft gezeigt habe. Gegen die aufgebrachte Menge nimmt Luther als junger Priester in Wittenberg den toten jungen Mann vom Balken und begräbt ihn eigenhändig nahe der Kirche. Er nimmt seine eigene Kreuz-Kette vom Hals und legt sie zu ihm ins Grab. Luther hat nicht geschwiegen angesichts des Grauens. Er hat unerschrocken gehandelt.

Auch Jesus von Nazarth hat sich nicht „mundtot“ machen lassen vom Tod. Von ihm wird berichtet, wie er mitten in der klagenden Menge der Trauernden am Grab seines Freundes ruft: „Lazarus, komm heraus!“ Und Lazarus kam. Jesus hat ihn wieder ins Leben gelockt. Das traue ich ihm zu, dem Jesus Christus – Menschen ins Leben zu locken. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“, fragt Jesus Martha, die Schwester des verstorbenen Lazarus (Joh. 11,25f).

Wieviele Male habe ich in meinem Leben eigentlich schon Ostern gefeiert, den Sieg des Lebens über den Tod? Wieviele Male habe ich das Wort von Paulus schon bedacht: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ wie es in Luthers Übersetzung heißt (1.Kor. 15,55)?

Jesus hat auch mich immer wieder ins Leben gelockt. Wie könnte es aussehen, auch andere zu verlocken? Nachdenklich verlasse ich das Museum.

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