Kein Herkules

Ein Wort zum Montag, dem 13. Dezember 2021     

VON CORNELIA SENG

„Wie soll das gehen – ein Halbgott?“ Die Schülerin deutet auf die Mitte ihres Körpers und macht eine Handbewegung von Kopf bis Fuß. Ich bin am Herkules und mitten in eine Schulklasse geraten. Seit gut zwei Jahren lebe ich jetzt in Kassel „im Schatten“ des Herkules. Was der Eiffelturm für Paris, ist der Herkules für Kassel. Von weither ist er sichtbar. Landgraf Karl hatte ihn bis 1717 erbauen lassen. Er hat sich gern selbst als Herkules gesehen. Für den absolutistischen Herrscher war Herkules ein naheliegendes Idol, mit ihm wollte er sich brüsten: Der sprichwörtlich starke Mann, der mit Schlangen und Löwen kämpfte und zeitweise die ganze Welt auf seinen Schultern trug. Ihm konnte niemand etwas. Ein Halb-Gott?

In ein paar Tagen werden wir wieder die Weihnachtskrippe aus dem Keller holen. Unter dem Tannenbaum werden wir sie aufstellen. Und wir werden die Geschichte von Maria und Joseph hören, für die kein Platz war in dieser Welt. Arme Leute, deren Kind in einem Stall zur Welt kam. Begrüßt und bewundert von Hirten, die auch arme Leute waren.

Warum rührt sie uns so an, diese alte Geschichte? Gott wird Mensch, ein Mensch wie Du und ich, will sie uns sagen. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, heißt es ganz drastisch in der Bibel (Joh 1,14). In Jesus von Nazareth kam Gott zur Welt und lebte mitten unter uns. 

Die frühe Christenheit hat es sich nicht leicht gemacht mit dem Bekenntnis, dass Jesus Christus „wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich“ sei. Heftig gestritten haben die Bischöfe, bis erst Mitte des 5. Jahrhunderts beim Konzil von Chalcedon eine Einigung gefunden war. Man musste sich erst vom Denken der griechischen Mythologie lösen. Die Geschichten vom starken Halb-Gott taugten nicht als Vorlage.

Die Weihnachtsgeschichte ist eine ganz andere Geschichte. Hier geht es nicht um Macht und Stärke. Das Kind, das da in der Krippe liegt, wird später die Armen glücklich nennen und auch die, die sich nach Gerechtigkeit sehnen. Und am Ende wird man den Mann Jesus kreuzigen, weil er nicht genehm war. Nein, mit ihm lässt sich kein Staat machen.

Die Weihnachtsgeschichte ist eine Gegengeschichte zu der vom Herkules. Auch heute noch. Sie passt nicht in unsere Welt. Und doch rührt sie uns an. Warum eigentlich?

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