Überlegungen zur Kultur der Kontroverse

VON WOLFGANG HORN 

Eine Gesellschaft lebe von Kontroversen, so der ehemalige Bundespräsident Gauck in diesen Tagen. “Nur wenn es nicht genug Kontroversen gibt, ist die Gesellschaft krank.” Nach diesem Befund wäre unsere Gesellschaft alles andere als krank. Finden denn nicht allenthalben Kontroversen statt? Vor allem über das alles beherrschende Thema in diesen Tagen, die Corona-Pandemie und was die Gesellschaft gegen sie ausrichten kann. Kontroverse. Mit diesem Titel wird ein Streitgespräch versehen, ein Wortgefecht, der Austausch von Argumenten. Da gehe es, so ist zu lesen, darum, die eigenen Argumente vorzutragen und das Gegenüber von der eigenen Position überzeugen zu wollen. Ein Streit zwar, eine Debatte, dem Ziel aber dienend zu vereinen, Verständnis zu erwecken, Verstehen zu schaffen, zu überzeugen. Ein Vorhaben, ein Vorgang, der regelhaft vollzogen wird, einer eigenen Kultur folgt, der Streitkultur. Es geht um die Entgrenzung, um die Eindämmung von Trennendem, die Herstellung von Gemeinschaft, von Gemeinsamkeit. Auch um die Achtung von Gegensätzen und Widersprüchen, um Respekt, um Demut. Voraussetzung für Kontroversen ist Gesprächsfähigkeit. Die Anerkennung des Faktischen, die Wahrung der Wahrheit, Einsicht in die Bedeutung gedanklicher und wissenschaftlicher Arbeit und Ihrer Ergebnisse. Und: die gute Kontroverse findet statt in dem gesellschaftlichen Rahmen demokratischer Verhältnisse. In Diktaturen ist kein Platz für Kontroversen. Der Streit um Argumente und seine Kultur sind Kennzeichen einer freien und offenen Gesellschaft, nachgerade der Lackmustest der Demokratie. Ist, so gesehen, das, was derzeit vielfach stattfindet, in den sogenannten sozialen Medien, der Austausch über Anordnungen und Regelungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, als Kontroverse, als kulturvoller Streit anzusehen? Wenn etwa ein Freiheitsverständnis geäußert wird, das andere beschädigt. Wenn individuelle Freiheit gedacht und auch gefordert, behauptet wird, ohne je die Grenzen derselben in den Freiheitsrechten anderer zu erkennen und anzuerkennen? Meinungsäußerungen dieser Art sind statthaft. Unsere Verfassung gestattet jeder und jedem, den Begriff der Freiheit selbstgerecht-egomanisch auszulegen und mithin zur Gänze auszuhöhlen. Nur eine Kontroverse kann auf einer solchen Basis kaum stattfinden. Auch gänzlich auf sich selbst gerichtete Personen genießen den Schutz des Grundgesetzes. Ebenso, wie jene ohne irgendeinen eigenen Gedanken oder gar ohne jeglichen Gedanken. Das alles muß man tolerieren. Aber man muß es nicht mögen. Und zum Austausch von Argumenten führt es schon gar nicht. Die Toleranz aber hat auch Grenzen. Wenn Demonstranten, Coronaleugner oder Impfverweigerer etwa einen gelben Stern mit der Aufschrift “Ungeimpft” tragen. “Meine Toleranz ist überschritten, wenn man ein Signal für die tiefste Unmenschlichkeit, die wir erlebt haben, für eine tagespolitische Auseinandersetzung nutzt. So etwas ist unmenschlich und unwürdig.” Das sagte der ehemalige Bundespräsident Gauck neulich in einem Interview. Diesem Bundespräsidenten folge ich nicht in jeder Hinsicht. An dieser Stelle aber hat er meine volle Zustimmung. Die Verweigerung einer Impfung gegen eine Infektion durch das Coronavirus ist keine historische Heldentat auf dem Niveau des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und befördert niemanden auf das Podest historischer Bedeutung. Und eine Regierung in der Bundesrepublik als Merkel- oder wahlweise Gates- oder Coronadiktatur zu denunzieren ist allenfalls das Armutszeugnis kompletter Geschichtsvergessenheit. Es mag krank sein, irrsinnig, sonderbar, anders pathologisch, ein Beitrag zu einer Kontroverse ist es jedenfalls nicht. Wenn im Kontext des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den bundesweiten Kontakteinschränkungen in einer Facebookgruppe etwa kommentiert wird, damit sei “das Grundgesetz eigentlich nichts mehr wert”, entlarvt der Urheber sich als vollkommen kenntnisbefreit. Die Einladung zu einer Kontroverse über den Wert der Verfassung unseres Landes ist das auch nicht. Wenn andererseits aus der Tatsache, daß das Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht Kontakt und Austausch hat mit dem Verfassungsorgan Bundeskanzlerin, auf Abhängigkeit des Gerichts von der Regierung geschlossen und damit bewußt eine schmähende Verdächtigung gegen die Güte des Urteils induziert werden soll, dann kann man das weder der Bildzeitung, noch der AfD durchgehen lassen, noch auch kann dies in einer streitbaren Kontroverse auf angemessen-intellektuellem Niveau behandelt werden. Schmähungen, Beleidigungen, Herabwürdigungen sind Methoden der Spaltung und das schiere Gegenteil von Kontroverse. In Bildzeitung und bei der völkisch-nationalistischen Populistenpartei hat das seinen Platz. Nur dort. Eine Kontroverse ist auch das Gegenteil von Krawall. Kontroverse kann scharf sein, spitz formuliert, Argumente, die treffen, weh tun auch. Sie ist aber nicht lärmend, lauthals. Krawall ist der brüllende Aufruhr, die lärmende Störung, gegen die öffentliche Ordnung gerichtet, Tumult. Krawall ist physisch. Kontroverse ist mental, gedanklich, sprachlich. Krawall führt nirgendwo zu Kontroversen, auch nicht in Facebook.

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