„Ich will wissen, wie es war“, sagte der 11-Jährige Lenny auf dem Stadtspaziergang zum 83. Jahrestag der Reichspogromnacht

VON MARIE-LOUISE LICHTENBERG

Am Sonntag, 14. November 2021, erzählte Armin Himmelrath, Journalist und Vorstandsmitglied des Vereins Bergische Zeitgeschichte, 21 Erwachsenen und vier Kindern unglaubliche Geschichten aus Wermelskirchen zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Volkshochschule Bergisch Land bot diesen Stadtspaziergang in Kooperation mit der Stadt Wermelskirchen an.

Auf dem Stadtfriedhof an der Berliner Straße erfuhren wir anhand einiger Grabstätten traurige und kaum fassbare Lebensgeschichten. Auch, welche Auswirkungen diese dunkle Zeit auf Kinder und Jugendliche hatte und, dass der Anlass für diesen Spaziergang das Erinnern an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 ist. 

Erste Station war das Grab der Familie Dr. Kurt Wohl. Der jüdische Arzt, der bei Arbeitern als auch Fabrikanten sehr beliebt war, wurde nach 1933 zunehmend denunziert, drangsaliert und unter dem immer größer werdenden Druck 1940 zur Ausreise gezwungen. Seine spätere zweite Frau war keine Jüdin und wurde als Verlobte eines Juden ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Nach dem Krieg kamen beide wieder zusammen und zogen 1957 nach Wermelskirchen. Hier starb Dr. Wohl 1961. 
Dem 11-jährigen Lenny gefällt besonders gut die wundersame Geschichte von Dr. Wohls Koffer, der den Weg nach Niederländisch-Indien und wieder zurück nach Wermelskirchen schaffte. In die Kita Heisterbusch kam und dann bei Armin Himmelrath landete. 

Der nächste Halt auf dem Friedhof war an der Kriegsgräber-Gedenkstätte. Armin Himmelrath erzählte von den zahlreichen Jugendlichen, auch aus Wermelskirchen, die ab 1943 auf den Einsatz im Krieg vorbereitet und dann in den Krieg geschickt wurden. Lenny (11), Lucy (9) und Max (11) liefen die Grabsteinreihen ab und waren ob des jungen Alters der Toten erschüttert. 

Auch aus dem Schularchiv des Städtischen Gymnasiums, zur Nazizeit Horst-Wessel-Schule, erfuhr Armin Himmelrath, dass 14- und 15-Jährige auf den Krieg vorbereitet wurden. Z.B. fanden alle zwei Wochen und zusätzlich an allen besonderen Anlässen der Nazis Fackelzüge durch Wermelskirchen statt, an denen immer etwa 100 Menschen teilnahmen. Herr Scheier, Lehrer am Gymnasium Wermelskirchen, hat noch bis in die 1960er Jahre Schülerinnen und Schüler brutal gequält. Eine Teilnehmerin erinnerte sich daran, wie er sie sehr schmerzhaft vom Stuhl an den Ohren hochzog. 

Die Grabstelle des katholischen Pfarrers Ludwig Zentis erinnert an einen aufrechten Menschen, der von den Nazis bespitzelt und schikaniert wurde. Er stellte sich gegen sie und leistete Widerstand. Z.B., als er eines Tages die gegenüber des Stadtfriedhofs liegende Sparkasse betrat mit den Worten: “Guten Tag!“ und dann am Schalter gut vernehmbar sagte: „Und für die Herren Beamten: Heil Hitler!“ Dies galt damals als Provokation.

Die nächste Station war nicht nur für die Kinder unvorstellbar. Die Zwangsarbeiter-Gedenkstätte mit 13 unscheinbaren Grabsteinen steht unter Denkmalschutz. Während der Nazizeit wurden über tausend Jungen und Mädchen, Frauen und Männer, Kriegsgefangene und Kinder aus Kinderheimen zur Zwangsarbeit nach Wermelskirchen verschleppt. Sie kamen aus vielen europäischen Ländern, z.B. aus Polen, Russland, der Ukraine. In Wermelskirchen mussten sie unter menschenunwürdigen Umständen in unterschiedlichen Lagern leben. Z.B. in Tente, auf dem Rhombusgelände ca. 400 Personen, in Hilgen-Neuenhaus, an der Carl-Leverkusstraße sieben Personen, auf Bauernhöfen, bei Privatleuten oder bestimmten Firmen zugeordnet. Die Bewohner der Stadt konnten diese Lager nicht übersehen. Ebenso war für alle sichtbar, wie die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter täglich zu den Arbeitsstätten geführt oder getrieben wurden. Jersy Krason war eines der Zwangsarbeiterkinder. Er starb nach Kriegsende kurz vor seinem 15. Geburtstag in einem Solinger Krankenhaus an der Ruhr. Über seine Lebensumstände ist so gut wie nichts bekannt. 

Armin Himmelrath erzählte auch von mehreren Mädchen, die zwischen 13 und 15 Jahre alt waren und in der Schuhfabrik Siebel in Tente Zwangsarbeit verrichten mussten. Sie wurden in der Sowjet-Union aus einem Waisenhaus entführt. 

Dann lüftete Gerhard Stock aus Dabringhausen das Geheimnis um ein Grab ohne Namen. Er erzählte, dass es die Grabstätte von Gertrud Hartmann, geb. Drechsler, verwitwete Nollert ist. Sie wurde 1906 in Dresden geboren und kam 1952 nach Wermelskirchen. Weil sie und ihr Mann sich zu den Bibelforschern bekannten, wurden sie von den Nazis verfolgt und in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Ihr Mann starb 1944 im KZ Lublin, sie wurde 1945 aus Hartzwalde, dem Außenkommando des KZ Ravensbrück, befreit. In Wermelskirchen heiratete sie wieder und starb 1996 mit 90 Jahren.

Fast am Ende angekommen, machte Armin Himmelrath auf die Gedenkstätte für den Widerstand aufmerksam. Sie erinnert mit der Aufschrift „Den Kämpfern gegen Faschismus und Krieg geweiht“ an Männer, Frauen und Jugendliche, die sich auch in Wermelskirchen gegen das verbrecherische Naziregime stellten. 

Die Teilnehmenden hörten weiteren interessanten Geschichten rund um den Stadtfriedhof zu. So z.B., was es mit der verwaisten Kruft auf sich hat, warum die Wermelskirchener „Dellmänner“ genannt werden oder was der älteste Grabstein auf dem Friedhof erzählt. 

Nicht nur Lenny, sondern auch der 11-jährige Max fand die Veranstaltung sehr interessant und war erschrocken, dass damals so viele junge Menschen starben und unter unsäglichen Bedingungen leben mussten. Sogar die 9-jährige Lucy fand den Rundgang gut, weil sie viele neue Sachen erfahren hat. Und alle drei sind sich einig, dass sie mit ihren Freunden darüber sprechen und die Informationen weitergeben werden.

Auch einige Erwachsene blieben tief bewegt von dem Gehörten nach dem Ende des Rundgangs zusammen. Martin Kretzer hebt hervor, dass Armin Himmelrath sehr anschaulich und gut verständlich die Geschichten erzählte. Sabine Rudersdorf wünscht sich, dass sich mehr Familien mit ihren Kindern Zeit nehmen und an einer solch wichtigen Veranstaltung teilnehmen sollten. Mehr öffentliche Ankündigungen wären bestimmt hilfreich. Sandra Kretzer ist sich sicher, dass das Erinnern auch Vorbeugung ist. Und für Sascha Schuster ist das Erinnern auch Aufklärung. Die Zeitzeugen sterben aus und dann ist es Aufgabe der jüngeren Generation, weiterzutragen, was die Älteren berichteten und wovon sie erzählten. 

Leider war die Ankündigung durch die VHS Bergisch Land irreführend. 

Eine Mail der VHS an das Forum Wk wenige Tage vor der Veranstaltung kündigte u.a. an: „Wermelskirchener Stolpersteine – ein Stadtspaziergang für Familien mit Kindern zum Jahrestag der Reichspogromnacht. Sonntag, 14.11. um 11.00 Uhr. Treffpunkt Schwanenplatz….“ 

Im aktuellen Programmheft (gelesen im Internet) der VHS steht u.a.: „So., 14.11.2021, 11:00 – 12:30 Uhr….Der Stadtspaziergang führt diesmal über den Stadtfriedhof zu Gräbern von Personen, die während der NS-Zeit wichtig waren. …Anlass für diesen Stadtspaziergang ist der nationale Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.
Treffpunkt: Haupteingang des Stadtfriedhofs an der Berliner Straße.“ 

Diese verwirrenden Ankündigungen der VHS sind wenig hilfreich und erschweren die engagierte und wichtige Arbeit von Armin Himmelrath. Erfreulich, dass trotzdem 25 Personen dem Rundgang über den Stadtfriedhof folgten. Zum Holocaustgedenktag (27. Januar) 2022 findet der nächste Stadtspaziergang mit Armin Himmelrath am Sonntag, 23.01.2022 um 11:30 Uhr statt. Treffpunkt ist der alte Lehrerparkplatz am Gymnasium. 






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