“Auftragsvandalismus” statt sinnfreie Schmierereien!
VON JOACHIM ZAPPE
Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wo gebaut wird, entstehen oft riesige Betonflächen. So zu sehen am neuen Wermelskirchener Jugendfreizeitpark. Auch das Loches-Platz-Bauprojekt hat entlang der Dellmannstraße für eine riesige und lange Betonwand gesorgt. Die ist mittlerweile gottlob durch die Begrünung nicht mehr als fürchterliche Beton-Wüste wahrnehmbar. Eines ist aber klar, wo solche Flächen entstehen, da sind die Schmierfinken und sinnfreien Schmierereien nicht mehr weit entfernt. Während der lokale Polizeibericht jüngst über solch ärgerlichen Verunstaltungen berichtete und öffentlich nach den Tätern gefahndet wird, gab es am Jugendfreizeitpark schon einige freiwillig initiierte (illegale) Putzaktionen. Schutz, gar permanente Aufsicht und Bewachung der Flächen sind dabei eher unrealistisch. Man muss sich also etwas einfallen lassen.
Gute Erfahrungen hat man damit gemacht, die betreffenden Flächen kontrolliert für kreative Köpfe freizugeben. Denn der beste Schutz vor Schmierereien ist es, wenn die Betonflächen schon gestaltet sind. Diese Erfahrung haben Anne und Walter Schubert gemacht. Die Schuberts hatten von einem erfahrenen Sprayer eine Wand an dem Stoffladen „Stola“ in der Kölner Straße kreativ gestalten lassen und so ungewollten Schmierereien vorgebeugt. Das sind jetzt 17 Jahre her und hatte damals für Aufsehen gesorgt. „Der Sprayer hatte gerade angefangen, da stand die Polizei bei uns schon quer über den Bürgersteig, weil man dachte, es würde etwas Verbotenes passieren“. Walter Schubert, selbst Künstler, hatte seinerzeit den Graffiti-Künstler Kajo Natez beauftragt, die Wand des Stoffladens „Stola“ an der Kölner Straße künstlerisch zu gestalten. Er war durch ein Sprayer-Bild des Solingers am AJZ Bahndamm animiert worden. Dort hatte Natez ein Portrait von Jimi Hendrix gesprayt, das Schubert so sehr begeisterte, dass nach einer Kontaktaufnahme prompt der Auftrag erfolgte. Auf der Visitenkarte von Kajo Natez, mittlerweile als Graffiti-Künstler nicht nur im Bergischen bekannt und gefragt, stand damals als Tätigkeitsvermerk „Auftragsvandalismus“. Heute verhindern Graffitis eher Vandalismus. „Wenn der Künstler sein Werk mit dem eigenen Tag, Logo, signiert hat, ist die Fläche nach dem in der Szene eigentlich geltenden Ehrenkodex Tabu für andere Sprayer“, stellt Walter Schubert fest. Über Kunst lässt sich zwar trefflich streiten, aber ein gewisser Herr Banksy hat es eindrucksvoll geschafft, auch den letzten Kritikern und Graffiti-Ignoranten zu zeigen, wie wertvoll und bereichernd Sprayer-Kunst sein kann. Dem Vernehmen nach möchte Bürgermeisterin Marion Lück demnächst eine solche Fläche für Graffiti am Rathaus zur Verfügung stellen.
Andere Städte im Bergischen sind da schon – einmal mehr – wesentlich weiter. Ein Blick in die Nachbarstädte lohnt sich einmal mehr. Paradebeispiel ist hier die Stadt Wipperfürth. Dort wurde unter Federführung des „Kunstbahnhofs Wipperfürth“ zusammen mit Jugendamt, Tourismusverband und vielen gesellschaftlichen Gruppen der Hansestadt seit 2013 das wahrscheinlich größte Kunstprojekt des Bergischen Landes realisiert. Unter dem Titel „Kunstprojekt Tangente“ wurde von Wipperfürther Bürgern die Stützwand entlang der B 237 in einem ersten Abschnitt künstlerisch gestaltet (eine Auswahl von Gaffitis aus diesem Kunstprojekt sind alle in diesem Beitrag abgebildet). Die Nutzer der Radtrasse kennen das Projekt sehr gut. Und es ist ein weiteres Beispiel dafür, was man entlang von Radtrassen für Bürgerinnen und Bürger gestalten kann. Mittlerweile hat es in den letzten Jahren in Wipperfürth zwei weitere Abschnitte entlang des Rad- und Gehweges gegeben. Zwischen Bahnstraße und Jugendamt wurden Hunderte von Quadratmetern Fläche an Einzelpersonen und Gruppen vergeben. Die Stadtgesellschaft findet sich hier künstlerisch wieder und die Ergebnisse waren zum 800jährigen Stadtjubiläum 2017 zu bewundern. Vor dem Bereich der Alten Drahtzieherei konnten sich für den dritten Abschnitt Künstlergruppen bewerben. Auf 134 Metern und 594 Quadratmetern entstand so ein beeindruckendes Gesamtbild, genauso, wie sich die künstlerische Leitung des „Kunstbahnhofs Wipperfürth“ das vorgestellt hatte. Einzelpersonen, Gruppen oder Künstler konnten sich im Rahmen eines Ausschreibeverfahrens für Flächen bewerben. Eine Kommission koordinierte die Kunstvorschläge und entschied über die Vergabe. Vom „Kunstbahnhof“ und deren Dozenten gab es just in time wertvolle Hilfestellungen in der Umsetzung der künstlerischen Ideen. Die Finanzierung des Kunstwerks erfolgte schließlich über die Förderung aus Mitteln des Integrierten Handlungskonzepts und natürlich aus Portmonees von Förderern und Sponsoren.
Brandaktuell gibt es seit letzter Woche ein neues, vorbildliches Graffiti-Projekt in Wipperfürth, eine gemeinsame Aktion des Kunstbahnhofs und Jugendzentrums im Rahmen der Wipperfürther Ferienspaßaktion für Kinder und Jugendliche. Der Zahn der Zeit hatte nämlich an den ältesten Kunstwerken genagt, die seinerzeit noch ohne Grundierung aufgetragen wurden. Neue Kunst soll jetzt im Tangentenbereich des ehemaligen Bahnhofs her. Nachdem die Wand eingerüstet, gesäubert und grundiert wurde, sind nun von donnerstags bis sonntags Jugendliche fleißig und motiviert damit beschäftigt, ihre Motive und Botschaften auf die Mauer zu sprayen. Bis Ende der Ferien soll die 1000 Quadratmeter große Fläche fertig und neu gestaltet sein. Hilfestellung erhalten die Jugendlichen von dem Siegener Graffiti-Künstler Tim Rothstein, der auch den bisherigen Wipperfürther Projektverlauf in den vergangenen neun Jahren mit Tipps und Tricks begleitet hatte. Ein Teil der Fläche wird von den Jugendlichen freigehalten. Dort soll eine „Hall of fame“ für Sprayer aus der Region reserviert werden. Jedes Gaffiti bleibt dort für einige Wochen bestehen, bis der Bereich von einem anderen Sprayer neu gestaltet wird.
Ein Blick (Fotos unten) auf das aktuelle Kunst-Projekt und an die eingerüstete und grundierte Tangentenwand. Unten links im Bild der Steinkreis, den die Wipperfürther Jugendlichen als neuen Treffpunkt gestalten können.
Nicola Wild vom Kulturbahnhof ist beeindruckt vom Engagement der Jugendlichen. „Erst war die Beteiligung etwas schleppend. Die Jugendlichen waren anfangs reserviert, weil sie es offensichtlich nicht gewohnt waren, gefragt und ernst genommen zu werden und selber entscheiden zu dürfen.“ Ein großer Umlauf in den Sozialen Medien unter der Überschrift „Message an die Wand“, „Was berührt Dich“ sorgt nun für eine große Beteiligung. So hofft Nicola Wild auch darauf, dass die Jugendlichen neben den Kunstwerken an der Wand auch eine Initiative für den Steinkreis als sinnvollen Treffpunkt für Jugendliche vor dem ehemaligen Bahnhof in Eigenregie entwickeln werden. “Es wäre traumhaft, wenn dort ein sinnvoll genutzter zusätzlicher Jugendtreff entstehen würde“, hofft die Kulturvorsitzende des Kulturbahnhofs. Wer das Gesamtkunstwerk in Wipperfürth verfolgt, wird daran bestimmt nicht zweifeln.
Neben den Hinguckern entlang der Radtrasse ist das Kunstprojekt aber auch ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Jugendarbeit, wo Jugendamt und –pflege, Jugendzentrum, Schulsozialarbeit und Kunstbahnhof Hand in Hand arbeiten und an einem Strang ziehen. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn das Glück dem Tüchtigen auch mal hold ist. Denn: die Materialien für die neuen Kunstwerke für 1000m Quadratmeter Grundierung und 850 Quadratmeter Sprayerfahren machen einen fünfstelligen Euro-Betrag aus. Die Gelder konnte der Kulturbahnhof aus dem (Corona) Fördertopf „Neustart Kultur“, dem „Fond Sozialkultur“ und dem Förderprogramm des Bundesministeriums für Kultur und Wissenschaft abgerufen. Die 19 Farbeimer und Kanister hatten glücklicherweise die überfluteten Lagerräume unbeschadet „überlebt“. Als Radfahrer freue ich mich jetzt nicht nur über meinen Standard-Cappuccino im Brauhaus am Wipperfürther Markt sondern auch auf die neuen Kunstwerke an der Trasse.
Fotos © Joachim Zappe