VON WOLFGANG HORN
Von einer “absoluten Ausnahmesituation, die wir in der Geschichte der Intensivmedizin so noch nie erlebt haben”, spricht ganz aktuell Gernot Marx von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin in einem eindringlichen Appell an die Bevölkerung, die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus einzuhalten.
Jede Gruppe, die sich aktuell nicht treffe, trage vielleicht dazu bei, dass ein paar mehr Menschen überlebten. Die vereinbarten Lockdown-Maßnahmen hätten aus der Sicht von Marx noch schärfer ausfallen müssen. Denn die Corona-Pandemie führe ihn und seine Kollegen derzeit an die Belastungsgrenze.
Derzeit werden 3926 Infizierte intensivmedizinisch behandelt, 2319 davon werden beatmet. Noch vor einer Woche hatte der Wert bei 3742 gelegen. Rund 5905 Intensivbetten sind derzeit den Angaben zufolge in den deutschen Kliniken noch frei.
Gestern Abend noch plädierte ein veritabler Parteivorsitzender in der allsonntäglichen TV-Talkrunde mal wieder für eine Öffnung der Gastronomie. Gegen die Darlegungen der anwesenden Fachfrauen. Gegen die mitdiskutierenden Ministerpräsidenten. Gegen jede Vernunft. Wenn die Wissenschaft nicht weiß, wo drei Viertel aller Coroinainfektionen stattfinden, dann kann man als Politiker schlechterdings nicht behaupten, in gastronomischen Betrieben seien Infektionen weitgehend ausgeschlossen. Stattdessen machte der Parteivorsitzende erneut das Faß auf, man müsse die “vulnerablen” Gruppe besser schützen, dann könne man die Gastronomie, Kultureinrichtungen und Museen wieder öffnen.
27 Millionen Einwohner sind es, die mit dem Adjektiv “vulnerabel”, also verletzlich, gekennzeichnet werden. Es sind nämlich nicht nur die Älteren. Es sind auch viele Kranke, junge und alte, Menschen mit einem Risiko, Diabetiker, Behinderte, Asthmatiker, junge wie alte, Menschen mit hohem Blutdruck, Bettlägerige, Immungeschädigte, Transplantierte und viele andere mehr. Und für dieses Drittel organisiert die Gesellschaft gesonderte Öffnungszeiten in Lebensmittel- und anderen Geschäften, einen eigenen Fahrplan des ÖPNV, Transporte mit (vom wem?) bezahlten Taxen, flächendeckend besondere Schutzmasken, eigene Ausgangszeiten sowie spezifische Besuchszeiten in Restaurants und Kulturstätten? Bullshit. Eine derart verwegene Idee läßt sich nur vortragen, wenn man die Freiheitsrechte gegen das Grundrecht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit in Stellung bringt. Gegen einen gehörigen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft.
Nein. Die Wissenschaft ist sich bei allen Unterschieden, die es ansonsten noch geben mag, darin einig, daß derzeit gegen die Pandemie und die zu hohen Infektionszahlen lediglich die starke Einschränkung von Kontakten hilft. Wie hieß es bei Intensivmediziner Gernot Marx? Jede Gruppe, die sich aktuell nicht trifft, trägt vielleicht dazu bei, dass ein paar mehr Menschen überleben. Wir müssen eine geraume Zeit noch unsere Kontakte stark einschränken, sehr stark, damit die Pandemie wieder beherrschbar wird und das Alltagsleben weiter normalisiert werden kann, bis schließlich Medikamente und Impfstoffe in den erforderlichen Mengen zur Verfügung stehen. Solange gibt es keine Restaurants und Cafés, keine Museen, keine Konzerte, keine Lesungen, keinen Sport, kein Bierchen an der Theke. Und vor allem: keinen Verkehr dorthin, keinen Parkraum, keine Tiefgaragen. Also, keine Kontaktgelegenheiten.
Das ist gar nicht so schwer, wie man am Verhalten der überwiegenden Mehrheit der Menschen ablesen kann. Die allermeisten tragen Schutzmasken auch draußen auf den Straßen. Man geht sich durchaus aus dem Weg und hält Abstand. Die Desinfektionsmittel in Geschäften werden reichlich genutzt. Eine schwere Zeit, diese Pandemie, in der Tat. Aber ganz ehrlich: Unsere Eltern und Großeltern hatten es schwerer. Sie haben Kriege erlebt und Verfolgung, viele Tote beklagt, Hunger gelitten, ein ganzes Land wieder aufbauen müssen. Es sind nur wenige, die sich heute nicht an die Regeln halten. Aber es sind zu viele, die ohne Verantwortung, ohne Verstand, ohne Anstand andere gefährden. Deren Freiheitsrechte rangieren überdies nicht über den Rechten anderer, auch dem Recht darauf, nicht einer womöglich tödlichen Infektion ausgesetzt zu werden. Laßt uns gemeinsam diese Anstrengung unternehmen, diese Einschränkungen hinnehmen, die Querulanten zurechtweisen, damit so bald wie möglich ein weniger eingeschränktes öffentliches Leben wieder möglich wird.