Meine „Love-Liste“

Ein Wort zum Montag, dem 2. November 2020

VON CORNELIA SENG

Am 31. Oktober ist Reformationstag. Zu Beginn meiner Schulzeit gab es für die evangelischen Schüler*innen Schulgottesdienste an diesem Tag. Martin Luthers Lieder und Sprüche haben meinen Glauben von klein auf geprägt. Die Bibel lese ich am liebsten in „Lutherdeutsch“. Im Studium habe ich seine theologischen Schriften gelesen. Wesentliche Erkenntnisse meines Glaubens verdanke ich Martin Luther. Die Welt heute wäre nicht dieselbe ohne ihn. Mein Leben wäre nicht dasselbe ohne Martin Luther.

Und doch trennen uns 500 Jahre. Dazwischen ist viel passiert. Wie viele Generationen waren nötig, um Luthers Botschaft von „der Freiheit eines Christenmenschen“ bis zu mir weiterzutragen? Wieviele Menschen haben, inspiriert von Luther, in der Bibel selber gelesen? In „Lutherdeutsch“? Wieviele Großmütter und Urgroßmütter, haben ihren Enkeln die biblischen Geschichten weitererzählt? Manche Bibeln unserer Großmütter haben wir aufbewahrt.

Ich erinnere mich gerne an „Tante Rickchen“, eine ältere Bekannte meiner Mutter. Als Jugendliche hatte sie ein Bein verloren beim Dreschen auf dem Feld. Geheiratet hat sie nie. Die Diakonissen in Kassel haben sie aufgenommen und in der Näherei beschäftigt. Sie lebte in einem kleinen Zimmer mit Blick auf eine hässliche Hinterhofmauer. Und doch klagte sie nie und strahlte eine Zufriedenheit aus, die mich schon als Kind beeindruckt hat. 

Einmal hat sie Jesu Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ erzählt. So lebendig und überzeugend hat sie es erzählt, dass ich dachte, ich wäre selber mittendrin in der Geschichte. Diese Liebe Gottes, von der sie in der Bibel las und erzählte – von der lebte sie.

Noch viele andere Menschen, die einen wichtigen Platz in meinem Leben haben, könnte ich aufzählen. Und für die waren wieder andere wichtig. Eine lange Reihe von Menschen, die weitergetragen haben, was sie selber gelesen haben in der Bibel.

Eine „Wolke der Zeugen“ nennt sie der Hebräerbrief (Hebr. 12,1). Ich habe eine lange Liste von Personen, die dazugehören. Ich nenne sie meine persönliche „Love-Liste“. Kirchenväter stehen drauf, Martin Luther steht drauf und eben Menschen wie Tante Rickchen. Und auch Martin Luther King Jr., der schwarze Bürgerrechtler aus Amerika.

Dieses Jahr am Reformationtag habe ich sie wieder herausgeholt, die „Love-Liste“. Und ich spüre den Trost, der von ihr ausgeht in diesen Tagen. Sie ermutigt mich weiterzumachen.

„Das Dunkel kann niemals die Dunkelheit vertreiben, nur das Licht kann das. Hass kann den Hass nicht vertreiben, das kann nur die Liebe.“ (Martin Luther King Jr.)

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