Die zweite Welle

VON WOLFGANG HORN

Das ist das schöne am Zahlwort: es macht die logische Folge so schön deutlich. Die zweite Welle folgt der Ersten. Das versteht jeder. Jeder? Nicht wirklich alle. Der inhaltliche Kontext, der thematische Zusammenhang, das Corona-Virus nämlich, befällt womöglich nicht nur Lunge und andere Organe des Körpers, sondern auch die für Logik zuständigen Synapsen von Beobachtern und Kommentatoren. Dann nämlich werden die derzeit wieder steigenden Corona-Infektionszahlen in Deutschland schon der zweiten Welle, der zweiten großen Masseninfektion mit exponentiell steigenden Ansteckungszahlen zugerechnet. Beispielsweise geht der sächsische Ministerpräsident diesen Weg.

Wir erleben gerade eine in den letzten Wochen nicht mehr gekannte Vermehrung der Infektionsfälle. In Österreich, in Deutschland, in Belgien. In Niederbayern sind 174 Erntehelfer infiziert. Die Tourismus-Hotspots in Österreich berichten von infizierten Praktikanten. Die irre Unsitte der Coronaparties nimmt zu, trotz allen Wissens über die Ansteckungswege. Ballermann, die Innenstädte, allen voran Frankfurt. An den Stränden werden Urlauber-Massen ohne jedwede Abstandsregelung gesichtet. In den Kneipen und Bars dort gibt es kaum Nasen- und Mundschutz, keine Hygieneregeln. Menschen, Städte, Urlaubszentren aus den Fugen. 

Dabei wollte ich doch eigentlich von meinen durchweg positiven Beobachtungen der letzten Tage im beschaulichen Wermelskirchen berichten. Hier achtet man überall, jedenfalls, soweit mir diese Beobachtungen möglich sind, auf Abstands- und Hygieneregeln. An den Ladentüren werden die Höchstbesucherzahlen eingehalten und man wartet geduldig vor dem Geschäft. Überall wird Mund- und Nasenschutz getragen, wenn man ein Gebäude betritt, einen Bus, ein Geschäft, ein Café. Es wird wenig bis gar nicht gemeckert. Erstaunlich. Die Gelegenheit, sich die Hände an Ein- oder Ausgängen zu desinfizieren, wird sehr häufig genutzt. Kein Gerede von Grundrechtseinschränkungen, sieht von ein paar wenigen Facebookgestalten ab, keine Aluhutdemo, kein Geweine gegen Gates oder Merkel. Das sind allesamt Kennzeichen der großen Stadt, in der sich einfach quantitativ eine größere Menge Irrsinn ansammeln kann als im Dorf oder der betulichen Kleinstadt.

Befeuert durch die Lockerungen aus dem Teillockdown, den wir in Deutschland erleben durften und der keineswegs vergleichbar war mit dem, was unseren Nachbarn in Italien, Frankreich oder Spanien zugemutet wurde, befeuert durch das ständige Gerede, das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes und Einzelner gehe zugrunde, befeuert durch das Mimimi von Gastronomen und Hoteliers, wähnen sich viele Menschen in Sicherheit vor den Gefahren des Corona-Virus. So entsteht die Fama, die erste Welle der Ansteckungen sei vorüber. Eine zweite Welle drohe im Herbst, wenn das Wetter kühler, unfreundlicher, feuchter werde.

Nein. Die Ansteckungsgefahr besteht nach wie vor. Die erste Welle ist noch voll im Gang. Es gibt keinen Anlaß, Vorsichtsmaßnahmen einzustellen. Die erforderlichen Abstände sollten im Interesse der eigenen sowie der Gesundheit der Mitmenschen eingehalten werden. Hände zu waschen und, wo möglich, zu desinfizieren, sollte gute Übung bleiben. In Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln sind Mund- und Nasenschutz obligatorisch. Keine Massenansammlungen, keine Großkonzerte, keine Parties. Die Corona-Warn-App auf den Handies sollte obligatorisch sein. Nur mit großen Nutzerzahlen kann sie den Effekt erbringen, der ihr zugedacht ist. Alle Experten sind sich einig: Es wird noch viel Zeit vergehen, Monate, viele Monate, bis Medikamente gegen das Virus auf dem Markt sind, bis ein Impfstoff wirklich gegen eine Infektion hilft. In dieser Zeit dürfen wir nicht nachlassen mit Vorsicht und Rücksicht. Alles andere wäre fatal. Und dumm.

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