Was wir von Flüchtlingen lernen können – und sie von uns

Wort zum Montag, 16. Dezember 2019

VON CORNELIA SENG

In unserer Kultur ist manches anders, erzählt A., er ist vor wenigen Jahren aus der Türkei gekommen: Zum Beispiel ist es in seiner Kultur selbstverständlich, alten Menschen spontan zu helfen.

Im Supermarkt neulich stand ein alter Mann vor ihm an der Kasse. Der hatte deutlich Mühe, seine Sachen aus dem Einkaufswagen auf das Band zu legen. Spontan hat A. in den Einkaufswagen gegriffen und geholfen. Da hat der alte Mann ihn fest am Arm gepackt und hat ihm deutlich gemacht, dass er die Hilfe nicht will. – Noch während A. das erzählt, merke ich ihm seine Enttäuschung an. Wollen die Menschen in diesem Land seine Hilfe nicht?

Fast jeder, der in einer Kultur des Vorderen Orients groß geworden ist, hat ähnliche Erfahrungen mit Deutschen gemacht. Hier in Deutschland müssen alte Menschen möglichst lange selbstständig bleiben, erkläre ich. Hilfe abzulehnen, heißt: Ich brauche noch keine Hilfe, ich komme noch allein zurecht.

Übertreibt Ihr es nicht ein bisschen mit dem Individualismus? Das fragt mein Freund Housam, der Philosoph aus Syrien. – Das kann schon sein. Einsamkeit ist häufig die Kehrseite des Rechts auf Selbstbestimmung. Nicht nur alte Menschen fühlen sich mit ihren Problemen oft allein gelassen in unserer Gesellschaft. Man spricht wenig miteinander und geht davon aus, dass jeder sein Leben schon alleine regeln wird. Dabei täte uns an dieser Stelle ein bisschen mehr orientalische Kultur gut.

Ich rate A., vorher freundlich zu fragen, ob seine Hilfe gewünscht ist. – “Darf ich Ihnen helfen?” In der Frage drückt sich der Respekt vor der eigenen Entscheidung des anderen aus.

Gut gemeinte, aber ungefragte Hilfe kann entmündigen. Eine freundliche Frage hilft. Und es ergibt sich die Gelegenheit zu einem freundlichen Gespräch. Wenn sie den Respekt vor der freien Selbstbestimmung jedes Menschen bedenkt, kann uns die orientalische Kultur helfen, es mit dem Individualismus nicht zu übertreiben. “Between-tegration” haben Housam und ich das genannt. Mit dem Begriff sind wir noch nicht zufrieden. Vielleicht fällt jemand etwas Besseres ein?

“Prüfet alles, und das Gute behaltet,” sagt der Apostel Paulus (1.Th.5,21).

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