Wuppertal/Bergisches Land | In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 13. Dezember 1919 wurde die Arbeiterwohlfahrt gegründet. Im Jahr100Interview spricht Dr. Fabian Kessl, Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt sozialpolitische Grundlagen, über die Geschichte der AWO und das Engagement ihrer Gründerin Marie Juchacz.
Marie Juchacz war eine engagierte Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin. Als erste Frau durfte sie in der Weimarer Nationalversammlung eine Rede halten. Am 13. Dezember 1919 gründete sie die Arbeiterwohlfahrt. Welche Ziele verfolgte sie?
Kessl: Das Engagement von Marie Juchacz war durchaus unterschiedlich motiviert. Zwei Ziele lassen sich besonders hervorheben: Da ist einmal der sozialpolitische Kampf für den sozialen Aufstieg und die Teilhabe der proletarischen Klasse – also der Arbeiterinnen und Arbeiter. In der Perspektive der Arbeiterbewegung waren diese bisher vor allem männlich. Zum anderen war ihr politisches Handeln das einer Frauenaktivistin. Angeregt von der ersten Frauenbewegung, Ende des 19. Jahrhunderts, trat Marie Juchacz sehr engagiert für Frauenrechte ein. Nicht umsonst war sie die erste, die im Parlament der Weimarer Republik sprechen durfte. Ihre geschlechterpolitische Motivation wird in ihrer Rede sehr deutlich, die jetzt – im Rahmen der 100 Jahr-Feiern – ja immer wieder aufgelegt wurde. Marie Juchacz war auch die einzige Frau, die 1933 im Rahmen der Debatten um das Ermächtigungsgesetz im Parlament sehr deutlich gegen die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, Anm. d. Verf.) gesprochen hat.
Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurde die AWO aufgelöst und verboten? Was waren die Gründe?
Kessl: Ein Grund ist der starke Einsatz für Frauen in der Perspektive der Gleichberechtigung – einer Gleichstellung von Mann und Frau also, die der NSDAP nicht passte. Die NSDAP verfolgte ja eine konträre Geschlechterpolitik, die sie überschrieb mit „Wir gründen eine eigene ,neue Frauenbewegung’“. Mit dem Begriff wollte sie sich von der ersten bürgerlichen Frauenbewegung absetzen. Mit deren Ziel der Frauenbewegung hatte das allerdings nichts mehr zu tun. Der Begriff „neue Frauenbewegung“ war nur ein Label der NSDAP, um eine klare Geschlechtertrennung zu legitimieren, die dann auch rassebiologisch argumentiert hat. Es ging um die Etablierung einer „Frauengemeinschaft“ – so nannte die NSDAP das – für die deutsche Frau, die dann für die Erziehung und den Aufzug der „arischen Kinder“ zuständig war. Und das als Rückendeckung für den Mann, der dann als Soldat oder als Arbeiter im „deutschen Volkswesen“ seiner Rolle nachkam. Es passte der NSDAP daher überhaupt nicht, dass ein Wohlfahrtsverband sich klar für Frauenrechte einsetzte. Ein anderer Grund war, dass die AWO damals eine sehr deutlich auf die Sozialdemokratie bezogene Organisation darstellte. Und die Sozialdemokraten waren der NSDAP – ich habe gerade das Ermächtigungsgesetz genannt – ein Dorn im Auge, weil sie als einzige Partei im März 1933 dagegen stimmten.
Dabei ist die AWO nicht unumstritten. Kritik gibt es vor allem am Umgang mit schlecht bezahlten Leiharbeitern und Unregelmäßigkeiten im Finanzbereich. Steht das nicht im Widerspruch zu den Leitsätzen, die mit dem Einsatz „für eine sozial gerechte Gesellschaft“ beschrieben werden?
Kessl: Ja, das stimmt. Wir erinnern uns: Kindergarten auf Mallorca oder Leiharbeiter unter prekären Arbeitsbedingungen in der Altenpflege in Essen und anderswo. Das ist bekannt richtigerweise scharf kritisiert worden. Zugleich muss man das Bild etwas einordnen, ohne die Entscheidungen der AWO zu entschuldigen. Die AWO steht in Konkurrenz, u. a. zu den konfessionellen Spitzenverbänden der Caritas und der Diakonie. Die sind größer, was Angebote und Arbeitnehmerzahlen anbetrifft und unterliegen einem eigenen kirchlichen Arbeitsrecht. Sie sind also nicht in der gleichen Weise den allgemeinen Tarifbindungen unterworfen, sondern haben eigenständige Tarife oder Lohn- und Arbeitsvereinbarungen. Das ist dem Staatsvertrag zwischen Staat und Kirche geschuldet, einer Sonderposition der Kirche. Diese Möglichkeit hat die AWO nicht. Nochmals: Das entschuldigt nicht die Leiharbeit, aber es bringt eine Situation ins Spiel, die insgesamt für diesen „Markt der Sozialträger“ eine Rolle spielt. Und als Spitzenverband ist die Verführung groß, dass man dieses Spiel dann auch mitspielt.
Im Mai dieses Jahres gab es in Wuppertal eine Veranstaltung der Arbeiterwohlfahrt unter dem Titel „Arbeiterwohlfahrt – Grundwerte im Wandel?“. In dem Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms, welches dort erörtert wurde, heißt es: „Unser Handeln wird bestimmt durch unsere Grundwerte und unsere Verpflichtung gegenüber der Würde des Menschen: Wir akzeptieren weder Armut noch Ausgrenzung und wirken daran mit, den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen.“ Welchen Einfluss hat die AWO in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen heute?
Kessl: Ich will das mal an zwei kurzen Beispielen aus der jüngeren Geschichte deutlich machen. Die AWO hat in der Diskussion um die sogenannten Hartz-Gesetze zugestimmt, dass die Ein-Euro-Jobs eingeführt wurden. Der Vorstand der AWO hat damals gesagt, wir werden mehrere tausend Arbeitsgelegenheiten schaffen. Von Seiten der Bundesregierung war damals klar, es wird diese Jobs nur geben, wenn sie nicht im privatwirtschaftlichen Bereich entstehen. D.h. die Wohlfahrtsverbände hatten eine mächtige Position, sie hätten sich dagegen entscheiden können. Dann wäre dieses Instrument arbeitsmarktpolitisch nicht durchsetzbar gewesen. Die AWO hat damals ganz klar dafür plädiert. Ein Gegenbeispiel ist, dass die Wohlfahrtsverbände in den 90er Jahren aus eigenen Mitteln Armutsberichterstattungen durchgeführt haben und die Bundesregierung damit stark unter Druck gesetzt haben, dieses zu tun. Seit den 2000er Jahren gibt es sie nun, eigene regierungsamtliche Armuts- und Reichtumsberichte.
Diese unterschiedlichen Beispiele zeigen, dass die Wohlfahrtsverbände Politik sowohl unterstützen, als auch zum Handeln bewegen können. Die Frage ist, will man in dem korporatistischen System, in dem die Wohlfahrtsverbände als Anbieter eine prioritäre Rolle einnehmen, als Auftragnehmer agieren und damit als Sozialunternehmen den Markt bespielen, oder will man als politischer Akteur im Sinne der Nutzer – der Familien, der Kinder, der alten Menschen, der Menschen mit Handikaps – politisch Einfluss nehmen. Das ist eine Entscheidung, auch wenn sie niemals nur „schwarz oder weiß“ ist. Denn der ganze soziale Bereich, wie auch der Gesundheitsbereich, ist immer stärker ein Markt mit seinen entsprechenden Marktbedingungen geworden. Mit denen müssen sich die Träger herumschlagen.
Dennoch: Die Wohlfahrtsverbände sind nicht zu unterschätzen. Sie sind insgesamt einer der größten Arbeitgeber in diesem Land. Das wird gerne übersehen, aber es zeigt, wie wichtig sie sind. Wenn wir sehen, was mit Sozialpolitik real für Teilhabemöglichkeiten realisiert werden – bei aller Schwierigkeit, bei steigender Armut – dann sollten wir gesellschaftlich eher mehr darüber diskutieren, wie wichtig dieser Bereich ist.
Uwe Blass
Fabian Kessl
studierte Erziehungswissenschaft und politische Wissenschaften an der Universität Heidelberg und promovierte 2004 an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Seit 2018 lehrt er als Professor für „Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt sozialpolitische Grundlagen“ in der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal
Beitragsfoto: Prof. Dr. Fabian Kessl © UniService Transfer