Bochum | Den nachfolgenden, heute veröffentlichten Brief an Innenminister Seehofer entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der in Bochum erscheinenden Zeitung „Neu in Deutschland“ (nid), einer deutschsprachigen Zeitung über Flucht und Ankommen mit Texten geflüchteter Frauen und Männer:
Eigentlich verzichten wir in der nid-Redaktion so weit wie möglich darauf, uns in politische und religiöse Debatten einzumischen. Die Worte von Innenminister Horst Seehofer in der vergangenen Woche haben uns jedoch derart alarmiert, dass wir als Team „Neu in Deutschland“ uns hierzu positionieren möchten.
Sehr geehrter Herr Minister Seehofer,
Sie leben schon länger auf dieser Welt als wir. Aber eines haben wir Ihnen voraus: Wir haben erlebt, wie Länder auseinanderbrechen, wie Menschen lernen, einander zu hassen.
Wir schreiben Ihnen auf Deutsch, weil wir diese Sprache in wenigen Monaten mit viel Kraft gelernt haben, um hier ein neues Leben anzufangen.
Ihre Worte, sehr geehrter Herr Minister, haben uns enttäuscht, entmutigt, entsetzt. Was Sie über die nach Afghanistan abgeschobenen Menschen sagen, mit einem Lächeln, erscheint uns bedrohlich. Nicht weil wir selbst von Abschiebung bedroht sein könnten. Nein. Sondern weil die Menschlichkeit in diesem Land verloren zu gehen droht.
Deutschland hat uns Hoffnung gegeben, Sicherheit und Mut. (Über die schlechten Erfahrungen brauchen wir an dieser Stelle nicht zu sprechen, die gibt es auf allen Seiten.) Die Menschen sind warmherzig und haben uns viel Unterstützung gegeben. Sie lächeln uns an. Das gibt uns Mut.
Sehr geehrter Herr Seehofer, haben Sie schon einmal probiert, während eines Luftangriffs zu schlafen? Oder beim Lärm von Geschossen ihren Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen? Haben Sie schon einmal aufs Meer geschaut und dabei Angst gespürt?
Wir wissen, dass es viele Menschen sind, die in den vergangenen Jahren, so wie wir, nach Deutschland kamen. Glauben Sie uns, dieser Weg ist nicht einfach.
Unterwegs haben wir die Menschen gefragt: Gibt es in Europa Rassismus? Werden wir in Europa wie Menschen behandelt? Die meisten von uns haben Terror, Diktatur und Unmenschlichkeit erlebt. Wir sehnen uns nach Frieden, Demokratie und Menschlichkeit.
Enttäuscht hören wir die Diskussionen in den Medien, in denen es so oft um Zahlen geht, wenn von uns Geflüchteten die Rede ist. Wenn darüber gesprochen wird, ob man uns wegsperren oder im Meer ertrinken lassen soll.
Über Politik und Religion können wir unterschiedliche Ansichten haben. In Deutschland herrscht glücklicherweise Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit. Aber die Menschlichkeit lässt nur eine Sicht zu: das Leben aller Menschen wertzuschätzen.
An einem Geburtstag feiert man ein neues Leben. Unabhängig davon, wo ein Mensch geboren wurde. Den eigenen Geburtsort kann niemand auswählen. Jeder Mensch ist gleich viel wert. So verstehen wir auch die christliche Religion, auf die Sie sich beziehen. Wir respektieren die christliche Religion aufrichtig. Unverständlich bleibt uns, wie ein religiöser Mensch lächeln kann, wenn er darüber spricht, dass Menschen dorthin geschickt werden, wo sie die Hölle auf Erden erlebt haben.
Wir sind neu in Deutschland. Wir brauchen nicht viel von diesem Land, vor allem Schutz, Verständnis, Zeit. Viele von uns arbeiten seit Monaten ehrenamtlich oder beruflich. Wir haben Deutschland viel zu verdanken, aber auch viel zu geben. Das versprechen wir Ihnen.
Sehr geehrter Herr Seehofer, wir haben in unseren Heimatländern erlebt, was passiert, wenn Hass zwischen Menschen gesät wird. Eine Politik, die auf Ängste und Ungleichheiten setzt, schürt Hass in der gesamten Bevölkerung. Die deutsche Bevölkerung haben wir anders erlebt: tolerant, hilfsbereit, menschlich. In Deutschland haben wir Mut gesammelt: auf ein Leben in Frieden. Doch Ihre Worte der vergangenen Tage entmutigen uns.
Wenn Ihnen der Dialog mit betroffenen Menschen am Herzen liegt, dann möchten wir Sie herzlich einladen zu einem Gespräch mit uns – in Bochum, unserer neuen Heimat. Erklären Sie uns, wie Ihre Politik mit christlichen Überzeugungen vereinbar ist. Wir denken: keine Religion legitimiert Unmenschlichkeit, weder die christliche noch die muslimische. Die Menschlichkeit hat keine Obergrenze.
Wir verbleiben ratlos und hoffen auf Antwort von Ihnen.
Das Team „Neu in Deutschland“ aus Bochum / NRW
Neu in Deutschland. Zeitung über Flucht, Liebe und das Leben (Deutscher Lesepreis 2016)
Bochum, Nordrhein-Westfalen, 13. Juli 2018
Ich hoffe diesen Brief der Bundesinnenminister und nicht nur der.