Ein Wort zum Montag, dem 31. Oktober 2022
VON CORNELIA SENG
In dieser Woche hat mich ein Bild in der Galerie „Alte Meister“ im Schloss Wilhelmshöhe besonders beeindruckt. Liegt es an dem nahen Reformationstag?
Das Bild gehört zu den „protestantischen Lehrbildern von Gesetz und Gnade“. Lucas Cranach d.Ä. hatte die Bilder einst in Umlauf gebracht. Er war ein Freund Martin Luthers und hat mit seinen Bildern die Reformation maßgeblich unterstützt. Und viele Maler haben das Motiv später aufgenommen.
Ein Gemälde von L. Cranach war in einem unserer Religionsbücher abgebildet, und ich habe es oft mit den Schüler:innen betrachtet. Es hat zwei getrennte Bildteile. Auf der linken Seite wird die Hölle dargestellt. Monster jagen den Menschen und treiben ihn zur Verzweiflung. „Du musst alles richtig machen“, sagen die am Rand stehenden, unbeteiligten Gesetzeslehrer. Auf der anderen Bildseite, der Seite der Gnade, ist der Lebensweg Jesu Christi zu sehen. „Blick nur auf Jesus“, weist Johannes der Täufer den Menschen hin.
In unserer Gemäldegalerie in Kassel hängt ein anderes Bild mit diesem Motiv. Es stammt von Antonius Heusler aus Annaberg in Sachsen. Vermutlich hat er es nach 1539 gemalt. Mehr als zwanzig Jahre nach Beginn der Reformation. Bemerkenswert ist auf dem Bild von Heusler: Die sonst übliche linke Bildhälfte fehlt völlig. Es gibt keinen Höllenschlund mit gefährlichen Monstern. Keinen von Angst gejagten und gepeinigten Menschen. Im Mittelalter wurde Angst regelrecht geschürt, sie wurde den Menschen eingeredet. Dieser Maler lässt das alles weg.
Denn Angst ist ein schlechter Ratgeber. Auch heutzutage. Die Angst vor Fremden führt zu einer missglückten Asylpolitik, sie missachtet immer wieder die Menschenrechte. Die Angst vor notwendigem Verzicht verschließt die Augen vor den Konsequenzen des Klimawandels. Angst lähmt. Dieser Maler kommt komplett ohne die angstmachende Bildseite aus.
Und noch eins ist besonders an diesem Bild: Hier ist der Mensch in Begleitung! Zwei Propheten aus dem Alten Testament und Johannes der Täufer stehen bei ihm. Sie stehen um ihn herum und nehmen ihn in ihre Mitte. Sie weisen ihn hin auf Jesus und seine Lebensgeschichte. Sie scheinen zu sagen: „Guck doch, Jesus ist für dich gestorben“ oder: „Leb einfach im Blick auf ihn!“ Und sie geleiten und begleiten ihn.
Und so kann der Mensch losgehen. Vielleicht erst zaghaft, aber er geht. Damit sagt uns der Maler aus Annaberg: „Du bist dabei nicht allein. Viele stehen hinter Dir. Die alten Propheten und viele Zeugen aus der Bibel. Und Martin Luther. Frauen und Männer“.
In den 500 Jahren seit der Reformation begleiten uns viele. Sie haben Erfahrungen gemacht mit dem Leben im Blick auf Jesus. Bis heute. Sie alle müssten mit auf das Bild. Wen würden Sie dazu malen zu der Gruppe? Mir würden einige Menschen einfallen. Auch das wäre ein schönes Reformationsbild.