STREIT ÜBER DEN PULL-FAKTOR

“Eine Sogwirkung konnte nicht nachgewiesen werden”

VON CORDULA EUBEL UND FABIO GHELLI

Für viele Geflüchtete sei der Sozialstaat ein Grund, nach Deutschland zu kommen, argumentieren manche Politiker:innen. Fachleute aus der Wissenschaft widersprechen: Migration sei “viel komplizierter” und der Pull-Faktor ein “politischer Kampfbegriff”.

Das Argument taucht in der politischen Debatte über Flucht und Migration immer wieder auf: Deutschland setze mit seinen Sozialleistungen die “falschen Anreize”, sagte CDU-Chef Friedrich Merz vor kurzem in einem Interview. Im europäischen Vergleich sei das “soziale Netz” hierzulande sehr groß und ziehe Menschen aus vielen Ländern an – ein sogenannter “Pull-Faktor”.

Was ist ein Pull-Faktor?

In der Migrationsforschung gibt es das “Push-Pull-Modell”. Das Konzept wird ursprünglich auf den Kartografen George Ernest Ravenstein zurückgeführt, der 1885 anhand britischer Zensusdaten “Laws of Migration” formulierte. In den 1960er Jahren schließlich entwickelte der US-amerikanische Forscher Everett Lee eine ökonomische Theorie der Migration. Diese geht davon aus, dass es Faktoren gibt, die Menschen aus ihrer Heimat “wegdrücken” (“push”) und andere Faktoren, die sie an einen anderen Ort “ziehen” (“pull”). “Push-Faktoren” können beispielsweise Krieg, politische oder religiöse Verfolgung, Hunger oder Armut sein. Als mögliche “Pull-Faktoren” zählen unter anderem stabile politische Verhältnisse oder eine günstige ökonomische Perspektive mit Erwerbsmöglichkeiten.

In der wissenschaftlichen Diskussion spiele das “Push-Pull-Modell” mittlerweile keine große Rolle mehr, sagt der Migrationsforscher Jochen Oltmer. “Wir wissen heute, dass Migration viel komplizierter ist.” In der politischen Debatte sei der “Pull-Faktor” allerdings zum “Kampfbegriff” geworden. Die aktuellen Äußerungen erinnerten ihn an die Debatte über angebliche “Sozialschmarotzer” in den 90er Jahren. “All diese Begriffe dienen dazu, Ängste vor Chaos und unkontrollierter Zuwanderung zu schüren.”

In der Migrationspolitik spielten simplifizierte Debatten über “Push”-und “Pull”-Faktoren aber weiterhin eine große Rolle. Das liege daran, dass politische Akteure und Institutionen – bewusst oder unbewusst – bestimmte Ideen und Erzählungen reproduzieren, sagt Leila Hadj-Abdou. Die Migrationsforscherin, die am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz tätig ist, hat Entscheidungsträger:innen, Beamtinnen und Vertreter:innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU und in den USA dazu interviewt. Das Ergebnis: Akteurinnen, die sich etwa mit Grenzschutz oder Migrationssteuerung beschäftigen, fokussieren eher auf “Pull-Faktoren”, NGOs und Menschenrechtsorganisationen hingegen vorrangig auf sogenannte Push-Faktoren. Die zahlreichen und komplexen Faktoren, die Menschen dazu motivieren, auszuwandern, würden in beiden Fällen holzschnittartig vereinfacht, so Hadj-Abdou.

Lässt sich ein Pull-Faktor durch Sozialleistungen nachweisen?

Seit den 80er Jahren werde darüber diskutiert, ob Sozialstaats-Leistungen einen anziehenden Effekt hätten, sagt Oliviero Angeli, wissenschaftlicher Koordinator des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM). “Eine Sogwirkung konnte aber in Studien nicht nachgewiesen werden.” Etwas weniger eindeutig sehe es bei der Frage aus, ob es in kleinräumigen Gebieten einen “Pull-Effekt” gebe.

Untersucht wurde das beispielsweise in der Schweiz, wo sich die Höhe der Sozialleistungen zwischen den Kantonen unterscheidet. Eine Studie kam zum Ergebnis, dass zugewanderte Sozialhilfeempfänger*innen zwar relativ mobil waren, es aber nur wenige Hinweise darauf gegeben habe, dass sie ihre Sozialhilfeleistungen bei einem Umzug systematisch optimierten. Effekte seien in “äußerst beschränktem Rahmen” zu sehen, sagt Angeli. Wenn überhaupt gebe es die nur bei kurzen Distanzen und damit einhergehend geringen Migrationskosten – und nicht bei großen Entfernungen: “Wer aus Eritrea nach Europa will, muss dafür schätzungsweise 10.000 Dollar ausgeben.” Die zu erwartenden Unterschiede bei Sozialleistungen in Zielländern spielten da keine Rolle mehr.Quelle

Migration sei mit hohen monetären und nicht-monetären Kosten verbunden, sagt auch Yuliya Kosyakova, Migrationsforscherin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). “Menschen machen sich nicht auf den Weg, um Sozialleistungen zu bekommen. Sie migrieren, um sich ein neues Leben aufbauen zu können und eine Arbeit zu finden.”

Nach welchen Kriterien entscheiden Menschen, wohin sie gehen?

Bei der Entscheidung, wohin Menschen gehen, spielen viele Faktoren eine Rolle. Eine vergleichsweise große Bedeutung haben persönliche Netzwerke, wie Studien zeigen. Aktuell lasse sich das bei der Fluchtmigration aus der Ukraine beobachten, sagt Migrationsforscher Oltmer. Schon vor Kriegsausbruch hätten viele Ukrainer:innen in Polen gelebt, auch nach Deutschland habe es seit 1989/1990 eine ausgeprägte postsowjetische Migration gegeben. “Wenn schon Verwandte und Bekannte in einem Land sind, können sie bei der Integration helfen.” Die Sprache im Zielland, sowie die Überzeugung, dass dort Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit geachtet werden, sind weitere Faktoren.

(Aus: Mediendienst Integration vom 20. Oktober 2022)

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