MEINE DOCUMENTA

V. Die Perspektive 

VON CORNELIA SENG

In dem schönen Kirchraum treffe ich auf Skulpturen aus Altmetall, aus echtem Schrott. Manche tragen Totenköpfe. Sie sehen aus wie Typen, vor denen ich mich fürchten würde. Typen, die angreifen und über Leichen gehen. Aggressiv und gefährlich. Manche haben bunte Knopfaugen und einen alten Mantel oder Schal um. Eingewickelte Aggressivität, die auf harmlos macht? Gruselig und faszinierend zugleich sind diese Skupturen. Von der Empore dröhnt eine Klangskulptur mit Originaltönen aus Port-au-Prince. Manchmal erschreckend laut.

Hier stellt die Gruppe Atis Rezistans / Ghetto Biennale aus Haiti aus. Ich bin in den Kasseler Osten gefahren, einem Schwerpunkt der Documenta. Die Katholische Kirche hat die zur Zeit nicht genutzte Kirche St. Kunigundis der Documenta zur Verfügung gestellt.

Die Figuren verarbeiten die traumatischen Erfahrungen der Menschen in Haiti, die die Versklavung ihrer Vorfahren in sich spüren, erfahre ich aus der digitalen Erläuterung. Und tatsächlich: sie transportieren eine andere Welt in diesen Kirchraum. Es ist eine Welt, die erschreckt, verstört. Die Figuren wollen mich mit den Menschen in Haiti verbinden. Ich lerne, die Welt mit ihren Augen zu sehen.

Skulptur der Gruppe Atis Rezistans / Ghetto Biennale aus Haiti in der Kirche St. Kunigundis in Kassel-Bettenhausen © Cornelia Seng

Und das ist die Absicht dieser Documenta: zu vernetzen, zu verbinden. Weltweit. Etwas von der Lebenswirklichkeit der Menschen im „globalen Süden“ nach Kassel zu bringen. Die Welt der „normalen“ Menschen dort. Es geht nicht um das Leben der Schönen und Reichen und Mächtigen, wie es sie überall auf der Welt gibt; es geht nicht um die „Trumps“ dieser Welt. Diese Documenta hat sich vorgenommen, mich teilhaben zu lassen am Ergehen der einfachen Menschen, an ihren Mühen und ihrem Leiden. Die politischen Verhältnisse bleiben dabei nicht ausgespart. Wie könnten sie auch?

Es geht um einen Wechsel der Perspektive. Wie sieht die Welt „von unten“ aus? Die inzwischen maßlos gewordene Debatte um den Antisemitismus auf der Documenta lenkt davon leider ab und scheint alles zu überdecken. Schade eigentlich. Die Perspektive „von unten“ ist heilsam und nötig in unserer Welt.

Beitragsfoto: Sie stehen beide für die „Perspektive von unten“: die Skulptur von Atis Rezistans und der gekreuzigte Christus, ein altes Kruzifix im Kirchgarten vor St. Kunigundis © Cornelia Seng

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