VON WOLFGANG HORN
Vorgestern hat der Berliner Tagesspiegel einen Artikel von Benjamin Reuter und Christopher Stolz veröffentlicht, in dem über einen Gastbeitrag unter der Überschrift „Entnazifizierung“ in der russischen Nachrichtenagentur Novosti berichtet wird, der zwischenzeitlich mehr als 300.000 mal aufgerufen worden sein soll. Der Gastautor spricht dort der Ukraine die Daseinsberechtigung ab, ruft zur Vernichtung der Ukraine auf und fordert, alle Menschen zu töten, die das Land verteidigen. Ein Mordaufruf. Nicht weniger. Novosti ist nicht irgendeine russische Agentur mit allenfalls begrenztem Einfluß. „Ria Novosti“ ist die staatliche Nachrichtenagentur. Ihre Texte und Beitrage haben gleichsam offiziösen Charakter.
Der Autor Sergeitsev steht laut Reuter und Stolz der liberal-konservativen russischen Partei „Bürgerplattform“ nahe, gegründet vom Oligarchen Michail Prochorow, einem der reichsten Menschen Russlands, der einer Liste der USA zufolge zu den Vertrauten Putins zu zählen ist.
Putin hatte den Überfall auf die Ukraine gleichfalls mit der Legende von der vermeintlichen “Entnazifizierung” „begründet“. Die Regierung in Kiew wurde als “Naziregime” bezeichnet, das russischsprachige Menschen unterdrücke und das gestürzt werden müsse. Novosti ist mithin Verkündungsorgan von Präsident und Führung Rußlands.
Timofei Sergeitsev wird indes deutlicher, als bislang Wladimir Putin zu vernehmen war: „Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde.“ Weiter heißt es, daß „ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, schuldig (sind, W.H.). Sie haben die Naziregierung unterstützt und geduldet. Die gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem erträgt, der so vorsichtig und umsichtig wie möglich gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird.“ Die Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse bestehe in der Umerziehung, in ideologischer Repression und strenger Zensur, „nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung.“ „Die Entnazifizierung kann nur vom Sieger durchgeführt werden (…). In dieser Hinsicht kann ein entnazifiziertes Land nicht souverän sein… Der Name ‚Ukraine‘ kann offensichtlich nicht als Titel eines vollständig entnazifizierten Staatsgebildes in einem vom Naziregime befreiten Gebiet beibehalten werden.“
Das ist die Rhetorik des Genozids, die Sprache des Völkermords, das sind Worte der Verrohung und Entmenschlichung. Der Beitrag ist ein einziges Dokument der Schande, des Verlustes jedweder Menschlichkeit in der diktatorischen Führung eines vielfach bedrängten und verfolgten Volkes, ein beschämendes Pamphlet für Mordbrennerei, Krieg und Terror. Die Führung Rußlands hat sich, gelten die Maximen dieses Beitrages von Ria Novosti für Regierung und Staat, für Parteien und Präsident, vollständig diskreditiert und für immer aus jeglichem Dialog verabschiedet.
Parallel dazu schwadroniert der ehemalige Präsident Medwedew von einem offensichtlich komplett “entnazifiziertem” “offenem Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok” und enthüllt in dem Kontext der Erzählung von naziverseuchten Gebieten Absichten, die über die Vernichtung der Ukraine hinausgehen: Das Ziel ist die Vorherrschaft in ganz Europa und die Beseitigung der gegenwärtigen europäisch demokratisch-freiheitlichen Struktur. Leute wie Orban sind Putin und Konsorten da nur willfähige und willkommene Helfer. Ich befürchte, wir sind mittlerweile mitten drin in einem Krieg. Unsere Freiheit steht auf dem Spiel und wir müssen alles tun, um den Ukrainern zu helfen, ihre Freiheit – und damit unsere Freiheit – zu verteidigen. Alles tun heißt hier: Waffen, die wirkliche Waffen sind. Und nicht nur Helme! Statt Solidaritätsgeschwätz endlich Unterstützung mit Panzern und Luftabwehrsystemen. Und: Zu mit dem Gashahn. Ein kaltes Wohnzimmer und Ausfälle in einigen Wirtschaftszweigen ist das geringere Übel im Vergleich zu dem, was Putin und Mewedew im Schilde führen.
https://www.welt.de/politik/ausland/article238010209/Medwedew-will-offenes-Eurasien-von-Lissabon-bis-Wladiwostok.html