Ignoranz oder Sorglosigkeit?

VON WOLFGANG HORN

Ich lese gerade, daß in Berlin derzeit pro 100.000 Einwohner 52,8 Neuinfektionen gemeldet worden sind. Und in Frankfurt wurde der Schwellenwert von 50 heute ebenfalls gerissen. Ist es Sorglosigkeit oder Ignoranz, die Menschen feiern läßt, ohne die in Covid-19-Zeiten notwendigen Abstände einzuhalten und einen Mund- und Nasenschutz zu tragen? An mangelnder Information kann ein solches Verhalten längst nicht mehr liegen, sind die Medien, Rundfunk und Fernsehen, sämtliche Zeitungen wie auch die Plattformen und sozialen Netzwerke voller guter und richtiger Informationen über das notwendige Verhalten in pandemischen Zeiten. 

Sind diese wenigen Regeln, Abstand, Hygiene, Mund-Nasen-Schutz und Begrenzung der Teilnehmerzahlen an Festivitäten wirklich so schwer zu begreifen und auch einzuhalten? Nein. Selbst die allerdämlichsten Zeitgenossen sollten die Regeln zwichenzeitlich kapiert haben. Es muß sich mithin um Ignoranz handeln. Es schert mich nicht, wie es anderen Menschen geht, Hauptsache, ich kann Party machen, wie es mir gefällt. Das ist das asozial-egomanische Verhalten, das ansonsten unter den obwaltenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft als adäquat und tauglich erscheint – mit Rasierklingen an den Ellbogen Mitbewerber um des eigenen Erfolges willen niederzukonkurrieren –, runtergebrochen auf die ganz kleine Welt achtloser Party-, Club-, Tanz und Vergnügungswut. 

Mitunter maskiert sich diese Egomanie als gesellschaftlich-politisches Statement, als Haltung, als Protest und Kampf für die Einhaltung des individuellen Grundrechts auf Egoismus. Aber:  Weder der Anschnallgurt im Auto, noch die Sicherheitsschuhe auf dem Bau, weder die regelmäßige TÜV-Untersuchung eines Kraftfahrzeugs, noch der Sturzhelm für Motorradfahrer, weder die Sicherung in einem elektrischen Gerät, noch die Augenkorrektur durch eine Brille mußten als „Einschränkung der Grundrechte“ für massenhafte Demonstrationen vor dem Reichstag herhalten, Arm in Arm mit Nazis, Hooligans und Reichsbürgern. Das Gedröhne von der vermeintlichen Verbotspolitik läuft vollkommen ins Leere, wenn man sich die Vielzahl von Sicherheitsregelungen und Bestimmungen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit vor Augen führt, die bislang noch niemals den Vorwand boten, in denkbar schlechter Gesellschaft absurde Forderungen zu stellen und bizarre Erklärungsmuster für die Zeitläufte darzubieten. 

Die Kultur der Bürgerlichkeit fußt auf dem Recht, den Rechten des Individuums. Ihnen wird ein hoher Rang eingeräumt. Die individuellen Freiheitsrechte können indes nur in einer zivilisierten, wertebasierten Gesellschaft gewahrt bleiben, in einer Gesellschaft, die sich Regeln gibt für das Zusammenleben, den Umgang miteinander, die Kommunikation. Achtsamkeit und Respekt und die individuellen Rechte anderer bestimmen die jeweiligen Grenzen, an die meine eigenen Rechte stoßen können. Ohne einen Begriff von den Rechten des Anderen löst sich meine Vorstellung von den eigenen Rechten sofort auf wie eine Seifenblase. Mit dieser Seifenblase sind sowohl die Sorglosen in diesen Zeiten ausgestattet wie auch die Ignoranten.

Kommentare (3) Schreibe einen Kommentar

    • H. Rosen
    • 08.10.20, 19:16 Uhr

    Das Erschreckende ist, dass der Wert der Neuinfektionen in Remscheid vor kurzem schon über 70 war.

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  1. Trotz

    [Trotz ist ein Verhalten des Widerstands, das sich in hartnäckigem, oft auch von heftigen Gefühlsausbrüchen begleitetem Beharren auf einer Meinung oder einem (ggf. auch nur vermeintlichen) Recht äußert.] Wikipedia

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    • Marie-Louise Lichtenberg
    • 08.10.20, 20:53 Uhr

    Diesen Text kann ich voll und ganz unterstreichen. Aber Ignoranz, Egoismus und Dummheit sind leider auf dem Vormarsch. Unsere einzige Chance sehe ich darin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dagegen antritt. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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