Unversöhnlich?

Von der Pflege der Meinungsunterschiede

VON WOLFGANG HORN

Meinungsunterschiede wollen gepflegt werden, nicht zementiert. So leitete heute die Süddeutsche Zeitung einen mit „Unversöhnlich“ überschriebenen Meinungsartikel der Schriftstellerin Jagoda Marinic ein. Marinic geht es um die Diskursradikalisierung, um die Polarisierung, die sie in Deutschland lange nicht erlebt habe. Hier habe es zwar auch die eine oder andere „aufgeheizte“ Debatte gegeben, sie erinnert an Martin Walser und seine Paulskirchenrede, aber für sie sei Deutschland das Land gewesen, „an dem man grundsätzlich noch an einem Tisch saß, wenn man sich stritt. Man pflegte seine Feindschaften.“ Das dürfte allen älteren Semestern noch bekannt sein, jenen auch, die sich im zweiten und dritten Jahrzehnt der Republik mit der älteren Generation stritten, Autoritäten in Frage stellten, Lehrmeinungen anzweifelten, Kritik übten, im Wortsinn, aussprachen, formulierten, niederschrieben. Man pflegte seine Feindschaften. Das bedeutet auch, daß unterschiedliche, gegensätzliche Positionen ausgetauscht wurden, aber eben ausgetauscht, auf Augenhöhe; es wurde zugehört, oft noch, nachgedacht. Es ging um Verstehen und Begreifen, nicht nur ums Erwidern, nicht um den Gegenschlag. Das liegt alles im Wörtchen „pflegen“. Heute werde, so Marinic, eher darüber gesprochen, welche Denker in welchen Zirkeln nicht zu verkehren habe, Denker, nicht Agitatoren. In Deutschland reichten immer geringere Differenzen, um feindselige Lager zu kreieren.

Inquisition sei das Verfahren, das vorzugsweise in den sozialen Medien angewandt werde, jede dritte Frage scheine eine Gottesfrage zu sein. Diese Aggressionssteigerung im Diskurs sei nicht allein den sozialen Medien zuzuschreiben, aber sie spielten eine wichtige Rolle. Wut sei eine der stärksten Währungen der Aufmerksamkeitsökonomie. Wer aber die Kontrolle gegenüber der lähmenden Polarisierung zurückhaben wolle, müsse lernen, die eigenen Gefühle zu kontrollieren.

Kommunalpolitik ist ein gesellschaftliches Feld, in dem die überwiegende Mehrzahl der Fragen und Probleme konsensual entschieden wird. Anders etwa, als in der „großen“ Politik. Der Meinungsstreit ist mithin nicht die erste Wahl politischer Methoden. Auf den Streit, die öffentliche Debatte wird zurückgegriffen, wenn Interessensaustausch, Nachdenken, Verständnis, Kompromißfindung kein für alle tragbares Ergebnis zeitigen. Aber auch dann findet der Streit auf Augenhöhe statt, mit Respekt, unter Wahrung der Formen erwachsenen und bürgerlichen Umgangs. Eigentlich. Wenn der Disput aber in die sogenannten sozialen Medien gerät, wenn auf Facebook gepostet oder kommentiert wird, wenn Twitter oder Instagram zum Spielfeld werden, dann spielen die guten Geister oft nicht mehr mit. Flugs wird beleidigend formuliert, wird der politische Konkurrent zum unversöhnlich zu bekämpfenden Gegner, zum Feind. Dann sind Erziehung, Anstand, gutes Benehmen perdu, dann regiert peinliche Gossensprache und gemeinste persönliche Attacke, dann befindet sich die Welt unterhalb der Gürtellinie. Kontrahenten werden aus Facebookgruppen eliminiert, selbst solchen, die mit dem Streit nicht das Geringste zu tun haben.

Selbst im beschaulichen Wermelskirchen kann man davon tagtäglich ein Pröbchen nehmen. Ich will es nicht empfehlen, aber Kennerinnen und Kenner wissen, in welchen Facebookgruppen sie suchen müssen, um schlechte Beispiele zu finden, auf welchen Internetseiten der Pöbelduktus regiert und die Beleidigungskunst gepflegt wird, wo gelogen wird, daß sich die Balken biegen. 

Als einfacher Bürger, als normale Bürgerin kann man nur hoffen, daß im nächsten Rat, in dem, der am 13. September gewählt wird, ein Umdenken stattfindet und früh deutlich gemacht wird, von allen demokratischen Parteien und Fraktionen, daß Unversöhnlichkeit in Sprache und Habitus, Beleidigungen und Beschimpfungen, die Herabwürdigung von Konkurrenten zu Feinden, daß all dieser aus den Netzwerken bekannte Usus in der Kommunalpolitik nichts verloren hat und von von den Bürgerinnen und Bürgern gewählten Vertretern im Rat und den Ausschüssen auch nicht mehr „gepflegt“ wird. Meinungsunterschiede ja, Meinungsstreit auch, heftige Debatte ebenfalls. Aber kein Gehetze, keine Beschimpfung, nichts unter der Gürtellinie.

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