Ein Wort zum Montag, dem 1. Juli 2024
VON CORNELIA SENG
Meistens steht das Fenster weit offen. Auf der Fensterbank liegt ein Kissen. Auch wer mit dem Rad vorbeifährt, ruft laut „Hallo!“ in die Stube. Aber oft sieht man auch Frau S. im Fenster liegen. In der Regel ist sie der einzige Mensch, den ich morgens auf meinem Weg zum Dienst im Kloster treffe. Dann bleibe ich eine Weile vor ihrem Fenster stehen. Wieviele junge Störche in diesem Jahr in den Nestern sind? Warum vergangene Nacht Feueralarm war? Wir finden immer etwas, worüber sich reden lässt.
In diesen zwei Wochen haben wir den „Präsenzdienst“ in der Klosterkirche übernommen, d.h. wir sind präsent, einfach da. Wie Frau S. in ihrem Fenster.
Heute Vormittag kommt ein älteres Ehepaar aus Naumburg in die Kirche. Sie sind stolz auf ihren Naumburger Dom. „Wir besichtigen jede Kirche und jedes Kloster“, erzählen sie mir. Auch im Kölner Dom waren sie schon. Diese Kirche hier in Jerichow gefällt ihnen besonders gut. In ihrer schlichten Architektur sei sie einfach eindrucksvoll. Die Bewunderung für das Gebäude teilen wir. Aber nein, zum Mittagsgebet wollten sie nicht bleiben. Mit Kirche hätten sie absolut nichts am Hut. Der Mann macht eine abwehrende Handbewegung, bevor sie gehen. Das kurze Gespräch macht mich nachdenklich. Offensichtlich fasziniert der Gott der Christen auch noch durch die Jahrhunderte alten Bauwerke. Auch, wenn man ihn selber nicht kennenlernen möchte.
Die nächste Besucherin ist eine junge Frau. Sie ist allein auf dem Elberadweg unterwegs. In Cuxhaven sei sie gestartet, erzählt sie mir. Sie ist katholisch, und ihr fällt sofort die Schlichtheit dieser Kirche auf. „Unsere katholischen Kirchen sehen ganz anders aus“, sagt sie. Hier gibt es gar keine Verzierungen und Gemälde. „Aber das ist schon okay.“ Ihr Vater war evangelisch, manchmal ist sie auch mit ihm zur Kirche gegangen. „Zum Glück ist das heute kein Streitthema mehr unter uns“ – darin sind wir uns einig. Eine Weile reden wir noch. Sie kennt sogar jemanden, der aus Wermelskirchen kommt, wo ich lange gelebt habe. Wir freuen uns beide über dieses verbindende und freundliche Gespräch.
Den kräftigen jungen Mann kenne ich schon. Er hat gestern eine Besuchergruppe durch die Kirche geführt. Heute geht er prüfend die Backsteinwände entlang. Nächste Woche wird er eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen durch das Kloster führen. Wie kann er ihnen diese alte Kirche erlebbar machen? Lässt sich an den Wänden das Alter der Kirche fühlen? Zu Beginn hat man mit Bruchsteinen gebaut. Der graue Sockel ist gut sichtbar. Die Backsteine darüber fühlen sich viel glatter an. Das Bauen mit Backsteinen verdanken wir italienischen Baumeistern. Ich schlage ihm vor, die Gruppe auch den Klang in der Kirche erleben zu lassen. Aber er kann nicht gut singen und kennt niemanden, der ihm helfen könnte. Eine Weile beratschlagen wir noch, wie Menschen mit Einschränkungen dieser Kirchraum erfahrbar gemacht werden kann.
Wenn gerade keine Gäste im Kloster sind, hänge ich meinen Gedanken nach.
Nach dem, was wir von Jesus wissen, war er auf seine Art auch im „Präsenzdienst“. Er war einfach da und hatte Zeit für jeden. Er hatte Zeit für lange Gespräche mit den Religionsgelehrten wie für die einfachen Leute, die Hilfe brauchten. Die Frau am Brunnen hat er in ein längeres Gespräch verwickelt (Joh 8). Wenn einer nach ihm rief wie der blinde Bartimäus, dann hat er seinen Weg unterbrochen und hat ihn zu sich gerufen (Mk 10,46ff). In Geschichten und freundlichen Gesprächen hat er den Menschen das Leben erklärt. Er hat vom Himmelreich und von der Liebe Gottes gesprochen. Und viele haben es verstanden und in ihm das Leben gefunden.
Ich wünsche mir mehr Gelegenheiten zum Präsenzdienst. Auch außerhalb der Klosterkirche. In meinem Alltag. Wahrscheinlich braucht unsere Welt mehr Menschen, die ein Kissen im Fenster liegen haben.