Matei Chihaia und Ludmila Hlebovich über die Tagung „TanzTheaterDenken“ an der Bergischen Universität
Herr Chihaia, am 27. Januar findet im Gästehaus der Bergischen Universität eine ganz ungewöhnliche Tagung unter dem Titel „TanztheaterDenken“ statt. Worum geht es da?
Chihaia: Tanz und Theorie, das scheinen auf den ersten Blick absolute Gegensätze zu sein: auf der einen Seite die Erfahrung des Körpers, das Handeln, auf der anderen Seite die Abstraktion, der Geist und Betrachtung. Aber diese klare Unterscheidung ist schon seit langem in Frage gestellt worden. Der französische Moralist Jean de La Bruyère fragt im 17. Jahrhundert: Weshalb unterschlägt man aus der Biographie des Sokrates, dass er getanzt hat? Und Jean-Jacques Rousseau verfasst hundert Jahre später eine Musikpantomime, Pygmalion, mit der er etwas zum Ausdruck bringen möchte, dass in seinen philosophischen Schriften noch keinen Platz gefunden hatte. Um einen größeren Sprung in der Zeit zu machen: Gabriele Klein, die auf unserer Tagung den Eröffnungsvortrag halten wird, hat mit der Praxeologie eine Form gefunden, um zu analysieren, wie der menschliche Körper durch sein Tun soziale Beziehungen konstruiert. Hierfür war das Tanztheater von Pina Bausch ein wichtiger Impuls. Dementsprechend bietet auch unsere Tagung nicht nur eine Theorie des Verhältnisses von Tanztheater und Denken, sondern verknüpft diese – es wird also Vorträge von Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen geben, aber auch eine Tanzwerkstatt mit Çağdaş Ermiş, einem Tänzer der Compagnie und eine Podiumsdiskussion, in der Barbara Kaufmann, Probeleiterin des Tanztheaters, und Valentina Paz, eine chilenische Choreographin, die mit der Compagnie zusammengearbeitet hat, sich mit Fabienne André unterhalten, die selbst Tänzerin und Tanzlehrerin ist. Und diese Verknüpfung von Praxis und Theorie wird auch in dem Titel „TanztheaterDenken“ zum Ausdruck gebracht, in dem beide Wörter nahtlos ineinander übergehen.
In Ihrem Informationstext zur Veranstaltung, den sie zusammen mit Marion Fournier, Ludmila Hlebovich und Valentina Paz Morales verfasst haben, schreiben sie: „Das Tanztheater… hat Formen des Denkens beflügelt und ist selbst eine Aufführung und eine Art des Denkens.“ Können Sie das einmal erklären?
Chihaia: Diese Formulierung stammt von Frau Dr. Hlebovich, einer Philosophin der Universität La Plata, Argentinien, die in diesem Wintersemester mit einem DAAD-Stipendium an der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften forscht – zur Ästhetik des Tanztheaters. Ich würde die Frage also gerne an sie weitergeben.
Hlebovich: Ja, ich meinte Folgendes: Der Tanz ist nicht nur an sich eine spezifische Ausdrucksform des Denkens, sondern er wirft auch Fragen auf, die sich an andere Disziplinen richten. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass wir bei der unterschiedlichen wissenschaftlichen Betrachtung des Tanzes berücksichtigen, dass der Tanz und seine Akteur:innen – also Tänzer:innen und Choreograf:innen – neben ihrer Praxis, ihren Techniken, ihren Werken und dem, was sie dem Publikum zeigen, ihre eigenen theoretischen Produktionen hervorbringen: Notizen zu Proben, Projekten, Schriften über den Tanz selbst, Autobiografien und Ähnliches. Wie wir wissen, hat Pina Bausch sich zwar selten ausführlich über ihr Werk geäußert, doch sie hat zahlreiche Interviews, Vorträge und Gespräche gegeben, ebenso wie die Tänzer:innen. Darüber hinaus verfügt der Tanz als Disziplin über eine eigene Geschichte, und die Dance Studies bündeln verschiedene Forschungen dazu in systematischer und historischer Perspektive.
Gleichzeitig stellt sich heraus, wenn wir die Beziehung zwischen Tanz und anderen Disziplinen im Allgemeinen betrachten, dass sich zunehmend nicht nur der Tanz von der Philosophie, Soziologie, Geschichte und Literatur inspirieren lässt, sondern dass diese Disziplinen auch Studien über den Tanz anbieten. Sie erkennen dadurch an, was der Tanz mit seinen Schreibweisen, seiner Methodologie sowie in der Formulierung von Forschungsfragen und Antworten in Bewegung bringt. Es gibt sogar verschiedene Projekte, in denen Forschende und Künstler:innen zusammenarbeiten. In Anbetracht dieser Berührungspunkte schafft die Veranstaltung einen Raum für Begegnung und Reflexion zwischen der Bergischen Universität Wuppertal, dem Tanztheater Wuppertal und allen, die an diesen Themen interessiert sind.
Chihaia: Es handelt sich übrigens nicht um die erste Veranstaltung dieser Art. Aus der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften gab es eine ganze Reihe von Projekten, die meine Kollegin Barbara Rüdiger-Mastandrea leitete, und in denen es um Mathematik und Tanztheater ging. Im Grunde führt unsere Veranstaltung diese Idee fort, dass das Tanztheater und die Wissenschaft sich viel zu sagen haben, und dekliniert diese Idee durch andere Disziplinen durch: Tanztheater hilft beim Denken.
Pina Bausch selbst sagt über das Tanztheater: „Es geht um etwas, in dem wir uns treffen können.“ Wie verstehen Sie das?
Chihaia: Die soziale Funktion des Theaters ist ein interessantes Phänomen. Im antiken Griechenland waren Theater und Demokratie verzahnt. Aber damit ist die gemeinschaftsbildende Wirkung des Schauspiels noch längst nicht erschöpft: Denkt man an Karnevalszüge und Krippenspiele. Totalitäre Staaten verbieten als erstes das Theater oder versuchen es zu kontrollieren, weil es nicht nur buchstäblich Spielräume eröffnet, sondern auch den Menschen gestattet, sich in der Betrachtung des Handelns als eine aktive Gemeinschaft zu erfahren. Theater verknüpft also die Erfahrung von Gemeinschaft mit der von Freiheit. Wer einmal in einer Aufführung des Tanztheaters war, kennt dieses Gefühl.
Hlebovich: Genau, solche Äußerungen von Pina Bausch erlauben uns, glaube ich, über die gemeinschaftsbildende Macht des Tanzes und der Gesten nachzudenken. Die Werke von Pina Bausch sind voller Gesten, die von ihrem berühmten Anliegen zeugen: Es kommt nicht darauf an, wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt. Im Moment der Entstehung der Werke wird dieses Anliegen in Hunderte von Schlüsselfragen übersetzt, die Pina Bausch den Tänzer:innen bei den Proben stellte und die sie aus ihrer eigenen Alltagserfahrung heraus beantworten mussten. Die Gesten, die aus dieser Arbeitsweise hervorgehen, vermitteln Erfahrung, und dies versucht sich mit unserer eigenen Erfahrung als Zuschauer:innen in Beziehung zu setzen. Darüber hinaus birgt diese Form, Gemeinschaft zu schaffen, noch etwas Interessantes: Nicht alle deuten die gleiche Geste auf die gleiche Weise. Gerade deswegen kann eine einzige Szene bei manchen ein Lachen hervorrufen und bei anderen eine tiefe Traurigkeit auslösen. Es handelt sich, denke ich, um eine Begegnung, in der – nicht ohne Spannungen und Widersprüche – das, was uns verbindet, und das, was uns unterscheidet, koexistiert.
Das Tanztheater Pina Bausch ist zum Forschungsgegenstand geworden. U.a. geht es darum, das Verhältnis von Sprache und Bewegung zu erforschen. In einer Dankesrede aus Anlass der Verleihung des Kyoto-Preises 2007 an sie, sagt Pina Bausch in ihrer Dankesrede über ihre neue Arbeitsweise: „Also habe ich ihnen (den Tänzer:innen) die Fragen gestellt, die ich an mich selber hatte. So ist die Arbeitsweise aus einer Not heraus entstanden. Die “Fragen” sind dazu da, sich ganz vorsichtig an ein Thema heranzutasten. Das ist eine ganz offene Arbeitsweise und doch eine ganz genaue. Sie führt mich zu vielen Dingen hin, an die ich alleine gar nicht hätte denken können.“ Wie geht man an so eine Forschung überhaupt ran?
Hlebovich: Diese Art des Schaffens, die auf Fragen basiert, die Tänzer:innen verschiedener Nationalitäten und Kulturen gestellt werden – aber auch auf Fragen zu unterschiedlichen Kulturen, wenn wir zum Beispiel an Koproduktionen denken – führt zu Stücken, die keine lineare Handlung vorschlagen, sondern eine Vielzahl kurzer Geschichten. Diese werfen uns als Zuschauer:innen viele weitere Fragen zurück: Welche ästhetischen Beziehungen entstehen auf der Bühne? Welche sozialen Beziehungen werden dargestellt, kritisiert, gefordert oder vorausgesetzt? Wie gestalten sich die Verbindungen zwischen verschiedenen Kulturen, zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, zwischen unterschiedlichen Körperlichkeiten, Generationen und Altersstufen?
Pina Bausch hat einmal gesagt, mit ihren Tänzern und Tänzerinnen wolle sie eine ´Sprache des Lebens` finden. Ist ihr das gelungen?
Hlebovich: Ich denke, das gelingt den Arbeiten des Tanztheaters Wuppertal in hohem Maße, weil sie nicht nur über äußerst begabte und geschulte Tänzer:innen und Schauspieler:innen verfügen, sondern auch, weil sie grundsätzlich von Alltagserfahrungen ausgehen, also nicht von großen Geschichten oder Figuren, sondern von den alltäglichsten Dingen wie dem Zubereiten des Frühstücks oder dem Abschied von jemandem, aber auch von den am meisten geteilten Gefühlen wie Angst oder Nostalgie. Und dann ist da noch der sensible und scharfe Blick von Pina Bausch, der die Bilder oder Fragmente von Bildern – erst zusammen mit dem Bühnen- und Kostümbildner Rolf Borzik, später mit Marion Cito und Peter Pabst – montiert, die jede:r von uns dann mit seiner eigenen Lebenserfahrung in Verbindung bringen kann – aber nicht muss.
An der Tagung nehmen neben Wissenschaftler:innen aus Argentinien, Chile, Frankreich und Deutschland auch Choreograph:innen und Tänzer:innen sowie Zuschauer:innen und Studierende teil. Wie kam diese bunte Forschungsgemeinschaft denn zusammen?
Chihaia: Frau André promoviert in Erziehungswissenschaften und ist zugleich Coach am Tanzhaus Wuppertal, Frau Dr. Fournier, eine Tanztheater-Expertin, hat als Lektorin in der Wuppertaler Romanistik gearbeitet, Frau Montabord, eine französische Kunsthistorikerin, ist Spezialistin für das Verhältnis von Avantgarde-Kunst und Tanz, Frau Dr. Hlebovich, eine Philosophin aus Argentinien war schon drei Mal für Forschungsaufenthalte zu Pina Bausch in Wuppertal, Frau Dr. Paz Morales lebt – wegen der Nähe zur Compagnie – hier in Wuppertal, obwohl sie als Choreographin in Chile tätig ist. Es ist das gemeinsame Gravitationsfeld von Tanztheater und Universität, die uns alle hier an der Wupper zusammengeführt hat.
Es wird auch eine Debatte über Tanz und Politik geben. Wie politisch kann denn der Tanz sein?
Hlebovich: So politisch, wie Kunst und Kultur sein können! In einem Interview wird Pina Bausch nach dem Zusammenhang zwischen dem Einsturz einer riesigen Mauer in Palermo Palermo, einem Stück, das am 17. Dezember 1989 uraufgeführt wird, und dem Fall der Berliner Mauer gefragt. Ihre Antwort ist nicht direkt, sondern umkreist das Thema. Vor allem betont sie, dass das, was sie vermitteln möchte, in der Aufführung selbst zu finden ist, und dass das, was dort präsentiert wird, etwas ist, das das Publikum erleben und beantworten muss. In ihren Worten: „Die Mauer ist für jeden an jedem Tag etwas anderes.“
Dies lädt uns dazu ein, über die politischen Dimensionen nachzudenken, die sowohl in den Werken selbst als auch in der Arbeitsweise des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch enthalten sind, und darüber, wie Stücke, die vor Jahrzehnten geschaffen wurden, dennoch eng mit den Fragen verbunden sind, die uns heute beschäftigen.
Chihaia: Ich habe schon bei einer früheren Frage begonnen, etwas zum Verhältnis von Theater und Politik zu sagen, und würde gerne auch etwas zum Tanz hinzufügen. Der französische Sonnenkönig, Ludwig der XIV., war bekanntlich ein großer Tänzer, und seine Bezeichnung verdankt sich einem Ballett, in dem er die Sonne darstellte, und um ihn herum andere Adlige, Mitglieder des Hofs sich als Planeten bewegten. Tanz diente also zur Darstellung eines Herrschaftssystems, das zentralistisch und absolutistisch angelegt war. Und diese Funktion hat Tanz immer noch: politische Verhältnisse körperlich darzustellen und erfahrbar zu machen. Die massenhaften Tanzspektakel in Nordkorea, bei denen alle genau die gleichen Gesten vollziehen, die Verlagerung dieser totalitären Dynamik in den digitalen Raum durch TikTok, wo ebenfalls eine Kontrolle des individuellen Körpers durch die vorgeschriebenen Bewegungen stattfindet, veranschaulichen einen Verlust politischer Freiheit. Umgekehrt inszeniert das Tanztheater die Körper auf eine Art und Weise, die es gestattet, die Disziplinierung des Körpers durch die Gesellschaft zu reflektieren, über Handlungsmöglichkeiten und Spielräume nachzudenken, und die Zuschauenden ermutigt, diese auszuprobieren. Nicht zufällig erscheinen bei Pina Bausch alle Generationen, und auch die Kinder mit ihrer einmaligen Fähigkeit, spielerisch unsere Sitten, also „das was sich schickt“, in Frage zu stellen.
Pina Bausch ist 2009 gestorben. Wie aktuell ist sie heute?
Chihaia: Frau Dr. Hlebovich hat genau zu diesem Thema gerade einen Aufsatz geschrieben, einer der Erträge ihres Forschungsaufenthalts an der Bergischen Universität Wuppertal.
Hlebovich: Ja, dies hängt stark davon ab, was wir unter „aktuell“ verstehen. Man muss damit nicht den neuesten Trend im Tanz meinen, sondern vielmehr das Vergangene, das heute nachhallt, das Aufmerksamkeit erregt, und weiterentwickelt oder kritisch revidiert wird.
In diesem Zusammenhang ist die Arbeit des Tanztheaters Wuppertal beispielhaft: Obwohl Pina Bausch 2009 gestorben ist und ihre Werke seither in gewissem Sinne in die Tanzgeschichte eingegangen sind, führt die Compagnie ihr Repertoire weiter auf, es entstehen neue Produktionen und, wie wir im letzten November mit Kontakthof-Echoes of ’78 unter der Leitung von Maryl Tankard gesehen haben, werden eigentümliche, verstörende Re-Positionierungen (Re-Inszenierungen oder reenactments) der Werke vorgeschlagen, die uns nicht nur über die Gegenwart (mit ihrer Zerbrechlichkeit und Stärke) dieses Tanzstücks nachdenken lassen, sondern auch über uns als Zuschauer: Was wollen wir sehen und was sehen wir, wenn wir uns die Werke einer Tanz-Revolutionärin betrachten? Das hält paradoxerweise den Geist des Tanztheaters von Pina Bausch lebendig. Ich meine damit, dass gerade Echoes eine Aufführung, die von der Vergänglichkeit der künstlerischen Schöpfung spricht, uns heute so zum Nachdenken bringt und bewegt, wie es Pina Bausch eben zu tun verstand. Diese innere Bewegung beantwortet nicht alle Fragen, sondern wirft neue auf. Sie ist eine gute Einladung zum Nachdenken, zur Ausarbeitung und zum Austausch von Perspektiven im Rahmen einer Tagung, zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen mit der Tanzwissenschaft im Verbund mit Mitgliedern der Compagnie und anderen Gästen, für die das Tanztheater Wuppertal zu ihrem Alltagsleben gehört.
Prof. Dr. Matei Chihaia studierte Komparatistik, Romanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der University of Oxford. Seit 2010 lehrt er Französische und Spanische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität.
Dr. Ludmila Hlebovich ist DDA-Gastwissenschaftlerin von der Universität La Plata in Argentinien.
Beitragsfoto © Sebastian Jarych