Platz nehmen für Demokratie

VON CORNELIA SENG

Kennen Sie die Aktion “Platz nehmen für Demokratie”? Bürgerinnen und Bürger in Kassel machen  sich Sorgen um die Demokratie in unserem Land. Diese Aktion wurde gestartet, um miteinander ins Gespräch zu kommen – zum Beispiel im Anhänger dieser Straßenbahn. Heute muss ich oft erklären, was die Initiative will. 

An der Haltestelle meiner alten Schule steigen drei Oberstufenschülerinnen ein. Natürlich sind sie gut informiert über die formalen Grundregeln der Demokratie. Sie wählen einen Klassenrat und eine Schülervertretung. Sobald sie achtzehn sind, werden sie natürlich wählen. In der Demokratie hat jede/r eine Stimme und sollte sie auch nutzen, meinen sie. Aber ist Demokratie mehr als alle paar Jahre ein Kreuz auf dem Stimmzettel zu machen? Ist Demokratie mehr als die Macht der gewählten Mehrheit? Das würde im Unterricht zu wenig diskutiert, finden sie. Wir sollten mal zu einer Veranstaltung in ihre Schule kommen.

Nachdem sie ausgestiegen sind, komme ich ins Gespräch mit einem nicht mehr ganz jungen Mann. Er guckt gelangweilt aus dem Fenster. Wir müssen Englisch miteinander sprechen, gibt er zu verstehen, und er sei aus Nigeria. Demokratie? Das Thema scheint ihn nicht zu interessieren. Auch in seinem Land wird gewählt. Aber was bringt das? Egal, welche Partei man wählt, jede sucht nur den eigenen Vorteil. Und nicht das Wohl des Volkes. “Sie sorgen nicht für das Volk”, sagt er. Ich nicke stumm. Deutschland ist nicht Nigeria. Soll ich jetzt sagen, dass in Deutschland alles viel besser ist? Wir haben eine parlamentarische Demokratie. Aber der Eindruck, dass Politiker mehr um das Überleben der eigenen Partei kämpfen als um das Wohl des Landes, ist mir nicht fremd.

Auf der Rückfahrt setze ich mich zu einem kräftigen Mann um die fünfzig. Die Sporttasche lässt darauf schließen, dass er unterwegs ist ins Fitnessstudio. Er sei aus der Türkei, sagt er gleich. Ob es ihm gut gehe in Deutschland, frage ich. Er arbeitet bei VW. Die Schichtarbeit nervt ihn, aber er verdiene gut. Ob es ihm in der Türkei besser ginge? Er weicht aus. Einen deutschen Pass hat er nicht. Erdogan findet er gut. Er setzt sich ein für eine starke türkische Nation. Aber Erdogan lässt politische Gegner einfach im Gefängnis verschwinden, sage ich vorsichtig. Na und? Das seien doch alles Terroristen, sagt er. An der nächsten Haltestelle steigt er aus. Ich hätte auch nichts mehr sagen können. Der Nationalismus macht alle demokratischen Werte platt. Der türkische, der amerikanische und auch der deutsche. Deutschland geht mir eben nicht “über alles”. Ich bin dankbar für das Grundgesetz unseres Landes. Danach geht die Würde jedes einzelnen Menschen “über alles”. Ich möchte nicht in einem Land leben, wo die Würde mancher Menschen zur Diskussion steht. Das hatten wir, und es ist nicht gut ausgegangen.

Die Hälfte der Strecke fährt eine Schulklasse mit uns im Anhänger der Straßenbahn. Kleine Jungen und Mädchen aus der Vorschule und dem ersten Schuljahr. Sie wollen eine Ausstellung in der Innenstadt besuchen. Die Schule legt Wert darauf, eine inklusive Schule zu sein. Ich entdecke Kinder mit Behinderungen unter ihnen. Selbstverständlich und fröhlich gehen sie in der Menge der anderen unter. „Es tut allen gut, dass sie da sind”, sagen die zwei begleitenden Sozialpädagoginnen. „Von Anfang an lernen die Kinder wie Menschsein ist. Wir sind nun mal unterschiedlich”. Und eine fügt leise hinzu: „Ich habe Angst. Wenn der Höcke an die Macht kommen sollte, werden die Kinder sortiert und diese werden aussortiert. Wo kommen wir dann hin?”

Ob wir das unter uns noch verständlich machen können, dass Demokratie mehr ist als das Kreuz auf dem Wahlzettel? Und dass sie mehr ist als die Macht der Mehrheit? Demokratie basiert auf den Menschenrechten und der Menschenwürde. Das will gelebt werden von uns allen. Jeden Tag. In Politik und Behörden. In der Straßenbahn wie in der Schule. Die Würde des Mit-Menschen ist anzuerkennen und wertzuschätzen. Egal ob er anders aussieht als ich und anderer Meinung ist.

Ich brauche ein paar Tage, bis ich die Gespräche dieser Bahnfahrt verarbeitet habe. Und meine Hilflosigkeit. Eigentlich habe ich nur zugehört.

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