Wuppertals nachhaltige ´Fake-Architektur` in der Elberfelder Nordstadt

Die Architektin Annette Hillebrandt und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Julia Timpert beschäftigen sich mit den Holzhäusern im Luisenviertel, die man erst auf den zweiten Blick erkennt

VON UWE BLASS

Die Luisenstraße in Elberfeld gilt als Wuppertaler Altstadtviertel. Entlang der Strecke von der Sophienkirche bis zum Laurentiusplatz säumen unter anderem klassizistische vermeintliche Massivbauten mit Geschäften und Gastronomie den Straßenzug. Bei näherem Hinsehen und auch Tasten entpuppen sich einige der Gebäude jedoch tatsächlich als Holzbauten. Damit hat Wuppertal einen ganz besonderen Schatz mitten in der Innenstadt, auf dessen Erhalt man sowohl Bürger*innen als auch Verwaltung und Politik dringend aufmerksam machen muss. „Wir sind darauf gekommen, weil wir uns gewundert haben, dass es so viele Häuser hier gibt, die zwar so aussehen, als seien sie aus Stein gebaut, es aber nicht sind“, erklärt Annette Hillebrandt, Architektin an der Bergischen Universität und fährt fort, „sie sind nämlich aus Holz gebaut als Holzfachwerkkonstruktion. Auch die Fassade ist aus Holz – Holzbretter, horizontal angeordnet. Sie vermittelt aber den Eindruck, als wären es Steine, die vermauert und überputzt wurden.“ Hillebrandt hat sich gemeinsam mit Studierenden im Rahmen einer Lehrveranstaltung im Wintersemester 21/22 mit diesen ´Fakebauten` der Gründerzeit auseinandergesetzt und deren nachhaltige Vorteile herausgestellt, die in Zeiten des Umdenkens beim Bauen im Bestand für zukünftige Architekten und Bauherren von besonderer Bedeutung sind. „Die Stadt muss sich darüber bewusst werden, dass sie hier etwas Einzigartiges hat“, erklärt Hillebrandt.

Eine komplette Holzfassade in der Luisenstraße © UniService Transfer

Stadtbrände und das Erstarken des Massivbaus

Die Fachwerk-Bauweise, bei der ein Holzgerüst mit Lehm, Stroh oder anderen Materialien ausgefüllt wurde, war seit dem Mittelalter in Europa vorherrschend und ermöglichte es, größere Gebäude zu errichten. „Aber viele Stadtbrände, aufgrund der Tatsache, dass die Städte sehr eng bebaut wurden, führten zu steigendem Misstrauen gegenüber dem nachhaltigen Baustoff“, sagt Timpert, „und durch die Einführung verschiedener Regularien und Verordnungen favorisierte man mit der Zeit den Massivbau.“ Doch so ganz verloren ging der Holzbau in den Innenstädten dann doch nicht.Mit der industriellen Revolution entstanden Sägemühlen, welche die Massenproduktion von Holzbrettern und -balken ermöglichten. Dies führte zu einer schnelleren und kostengünstigeren Bauweise, deren Ergebnisse es heute im Bergischen Land wieder zu entdecken gilt. Im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte rücken diese, in der Zeit der Jahrhundertwende zwischen 1890 und 1920 entstandenen Holzbauten, wieder in den Fokus vieler Architekten.

Sicherheitsmaßnahmen im Holzbau

Die Brennbarkeit von Holz ist unter Sicherheitsaspekten ein Problem. Doch man kann einiges tun, um das Material sicherer zu machen. „Man kann Holzbauteile entweder abkapseln, also mit nicht brennbarem Baustoff bekleiden“, erklärt Hillebrandt. Und dazu eigne sich Gipskarton hervorragend, so dass Holz erst gar nicht mit der Flamme in Berührung komme. „Gipskarton ist am Nutzungsende zu 100 % recyclingfähig und besteht im Moment neu gekauft zu 50% aus sogenanntem REA-Gips, einem Abfallprodukt aus den Filteranlagen von Kohlekraftwerken.“ Eine andere Möglichkeit sei, dass man das Holz quasi überdimensioniert. Dazu die Fachfrau: „Man weiß, dass, wenn Holz brennt, es in zehn Minuten je nach Holzart sechs bis acht Millimeter abbrennt. Indem man überdimensioniert, kann man also Holz mit Holz schützen. Der Ablauf ist folgender: Der Tragwerksplaner gibt die statisch notwendige Dimensionierung z.B. einer Holzstütze mit 10 x 10 Zentimeter an. Der Brandschutz erfordert z.B., dass diese Stütze aber 60 Minuten dem Feuer widerstehen muss. Also rechnet man auf den statisch erforderlichen Querschnitt die Abbrandrate in 60 Minuten hinzu, also plus 36 Millimeter allseitig. Die Stütze muss also circa 17,5 auf 17,5 Zentimeter werden. Für den Brandschutz muss man also den Baustoff Holz nicht verlassen.“

Sieht aus wie Stein, ist aber Holz, Haus in der Luisenstraße (c) Transfer

Holzbauten in der Elberfelder Nordstadt

Hillebrandts Lehrstuhl ´Baukonstruktion, Entwerfen und Materialkunde` hat zusammen mit dem Lehrstuhl von Karsten Voss ´Bauphysik und technische Gebäudeausrüstung` die Frage nach der Rückbesinnung und Zukunft im urbanen Raum mit Holz am Beispiel der Wuppertaler Nordstadt untersucht. „Holz war ein regional verfügbarer Baustoff, der aber im Bergischen normalerweise mit Schindeln aus Schiefer verkleidet wurde. In der Nordstadt und dem Luisenviertel gibt es aber sehr viele Beispiele, wo eben durch die lackierte Holzverkleidung das Bild des gründerzeitlichen Massivbaus erzeugt wurde“, sagt Hillebrandt. „Durch genaues Hinsehen im Detail sind wir auf diese urbanen, historischen Fachwerkhäuser gestoßen, die sich so gut in das Erscheinungsbild einfügen“, erklärt Timpert. Die Akademikerinnen schauten im Rahmen der Lehrveranstaltung gemeinsam mit Studierenden dann zunächst in der Denkmalliste der Stadt nach, in der die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude erfasst sind. Um aber auch alle weiteren Fachwerkbauten zu kartieren, inspizierten die Beteiligten Stück für Stück das Viertel und erstellten eine eigene Karte mit den historischen Holzgebäuden. „Unser Ziel ist es, dass diese Gebäude mehr wertgeschätzt werden, dass sie restauriert und erhalten werden“, wünscht sich Hillebrandt.

Lernen aus der Gründerzeit

Die Häuser in der Luisenstraße stehen natürlich stellvertretend für viele andere ähnlich gebaute Häuser im Bergischen Land. Wichtig für Architekten sei vor allem die Möglichkeit des Lernens an diesen Objekten. „Die Häuser sind Leichtbauten, keine Massivbauten. Man kann im Allgemeinen sagen, je schwerer ein Haus, desto weniger nachhaltig ist es. Und überdies haben wir es beim  Holz mit einem nachwachsenden Rohstoff zu tun, im Gegensatz zu den mineralischen Baustoffen.“ „Auf den zweiten genauen Blick, kann jeder schnell herausfinden, welche Häuser nur so aussehen wie Massivbauten, es aber nicht sind“, sagt Hillebrandt, „Die Holzfassaden wurden mit Brettern hergestellt, und die waren meist nur in bestimmten Höhen wirtschaftlich herzustellen. Das heißt, die vermeintlichen `Steinlagen` sind in der Regel etwas niedriger ausgefallen. Auch fehlen die vertikalen `Steinfugen`, denn die Bretter laufen so lang wie möglich durch. Ein Hineinsägen, ein Kappen der Bretter für Vertikalfugen hätte ein unnützes Abdichtungsproblem kreiert. Das kann man durch Hinsehen herausfinden, aber einfacher ist Anklopfen.“

Maßnahmen zum Erhalt ergreifen

Gebäude, ob Massivbau oder Holzbau, die unter Denkmalschutz stehen, dürfen im Erscheinungsbild nicht verändert werden. Das sei eine der großen Herausforderungen, erklärt die Architektin. „Alle Investitionen in den Erhalt eines  Denkmals sind voll abschreibungsfähig und das empfinde ich als einen Gewinn. Doch zunächst muss man dazu erst einmal Geld haben“. Und davon gäbe es in Wuppertal allgemein zu wenig, egal, ob in Massivbauten oder in Holzbauten zu investieren. „Natürlich waren es damals schon nicht die reichen Familien, die vor 120 Jahren diese Häuser gebaut haben, sondern eher die ärmeren. Sie haben auf Holz zugegriffen, weil es billiger war.  Wir müssen heute versuchen, dieses Erbe zu schützen und es sollte durch die Stadtverwaltung ausgelotet werden, ob es Förderprogramme gibt, die den Besitzern helfen könnten, diesen besonderen Bestand zu erhalten.“
Im Baubestand zu bauen, bedeutet aber, sich durch einen Dschungel an Regeln und Normen zu kämpfen. Das bringt Besitzer und Planer oft an den Rand der Verzweiflung. Aber es gibt auch Möglichkeiten, da `schlägt´ der Denkmalschutz die Regelungen. So müsse man im Denkmalbereich eventuell Regelungen zum Schallschutz gar nicht einhalten. Wenn bspw. feststehe, dass der Bodenbelag sichtbar erhalten werden müsse, dann könne kein Schallschutz ertüchtigt werden. Da müsse sich der Denkmalpfleger dann auch durchsetzen.

Nachhaltigkeit ist messbar und …

Hillebrandt hat in dem studentischen Forschungsstudio auch den CO₂Fußabdruck der Holzhäuser mit dem eines Massivhauses aus der Nordstadt verglichen. „Wir haben beispielsweise verglichen, wieviel hundertjährige Bäume es eigentlich braucht, um den CO₂Footprint verschiedener Häuser gleich Null zu stellen. Für die Holzhäuser, die hier gebaut wurden, braucht man deutlich weniger Wald anpflanzen und diesen über 100 Jahre als sogenannte CO2-Senke zu kultivieren, als für den Massivbau. Es sind total nachhaltige Gebäude und das ist der Vorbildcharakter daran“, sagt Hillebrandt und Timpert ergänzt, „durch den Datensatz,  der ermittelt wurde, konnten wir den Materialrucksack und auch das Treibhauspotential untersuchen. Als Vergleich hatten wir ein Massivgebäude mit ähnlicher Kubatur und konnten feststellen, wieviel mehr CO₂-Äquivalente der Massivbau innehatte als der Fachwerkbau. Das Fachwerkhaus wäre als CO2-Kompension mit im Mittel 5 Fichten ausgekommen während das Massivhaus über 50 100-jährige Fichten beansprucht hätte.“
Die Fachleiterin fasst es noch einmal deutlich zusammen: „Das ist das 10-fache an Treibhauspotential, was dadurch verursacht wurde, und wir reden hier von ausgewachsenen Fichten und keinen kleinen Bäumchen. Das Problem was wir haben ist: Wir bauen so CO₂-intensiv, so schnell wachsen die Bäume gar nicht nach. Wir können nicht alle Neubauten komplett aus Holz bauen, da das Abholzen von ausgewachsenen Bäumen auch keine gute Idee ist. Denn sie binden das Kohlendioxyd und schenken uns den  Sauerstoff zum Atmen. Wir müssen also den Wald schützen! Der Waldzustandsbericht von 2023 besagt, dass nur noch jeder fünfte Baum gesund ist. Wir müssen also den Gebäudebestand erhalten, statt neu zu bauen. Die ´Fake-Häuser´ der Nordstand hier sind supernachhaltige Häuser, die es zu schützen gilt.“

Holzfassade imitiert Steinfassade, Luisenstraße © UniService Transfer

… Nachhaltigkeit ist machbar

Die Vorteile des Holzbaus kann man zweifellos auch an den nachhaltigen Rückbaumöglichkeiten festmachen. Dazu Hillebrandt: „Der Skelettbau hat den Vorteil, dass er leicht ist, denn er besteht ja nur aus Stützen und Balken. Wenn man das Holz im Rückbau zurückgewinnt, kann man es noch einmal einsetzen, oder, man kann es auch vom Lack befreit, kompostieren. Dann wird es zum Nährstoff für den nächsten Baum.“ Die Holzhäuser in der Elberfelder Nordstadt wurden schon damals mit den Ressourcen der örtlichen Umgebung gebaut und waren unbeabsichtigt schon nachhaltig. „Dem modernen Holzbau werden oft negative Eigenschaften, wie z. B. sommerlichen Erhitzung vorgeworfen“, sagt Timpert, „aber da kann man, wie ebenfalls in der Projektarbeit untersucht wurde, mit vorbeugenden konstruktiven Lösungen und intelligenten Entwürfen – z.B. durch eine bessere Verschattung, Sonnenschutz oder durch eine intelligente ergänzende Materialwahl – entgegenwirken, so dass letztendlich das Raumklima in den Sommermonaten stabil bleibt und im Vergleich zum Massivbau nicht schlechter abschneidet. Ich kann den Holzbau mit einfachen Mitteln so gestalten, dass er genauso gut performed wie der Massivbau.“

Für die untersuchten Holzhäuser im Luisenviertel wünschen sich die Akademikerinnen mehr Aufmerksamkeit durch Entscheidungsträger von Stadt und Land und Hillebrandt sagt abschließend: „Ziel könnte sein, aus dem Ensemble der Holzhäuser ein baukulturelles Erbe zu machen, was dann auch international z. B. durch die EU gefördert wird. Das würde den Wuppertalern den baukulturellen Wert dieser Häuser nahe bringen und den Besitzern ermöglichen, die Holzhäuser zu pflegen und erhalten.“


Prof. Dipl.-Ing. Annette Hillebrandt leitet den Lehrstuhl für Baukonstruktion/Entwurf und Materialkunde an der Bergischen Universität mit dem Forschungsschwerpunkt Kreislaufpotenziale im Hochbau
Julia Timpert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl

Beitragsfoto: Prof. Dipl.-Ing. Annette Hillebrandt © UniService Transfer

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