IM DEMOKRATIEZUG

EIN BERICHT AUS DEM INNEREN UNSERER DEMOKRATIE

EIN GASTBEITRAG VON CORNELIA SENG

Langsam füllt sich der Anhänger der Straßenbahn der Linie 1 in Kassel. Er ist bunt beklebt: “Platz nehmen für Demokratie”. Hier sollen heute während der Fahrt Gespräche über Demokratie stattfinden. Heute bin ich zusammen mit zwei jungen Frauen als Diskursbegleiterin eingeteilt. Eine Weste macht uns als Gesprächsleiterinnen erkennbar.

Zwei ältere Frauen steigen gleich zu Beginn der Fahrt mit uns ein. Sie haben extra wegen dieses Projekts die Bahn gewählt und sind gespannt auf das Gespräch mit anderen Fahrgästen. Tatsächlich findet sich schnell eine kleine Gruppe von Menschen, die angeregt diskutieren. Während Elin und Lara das Gespräch moderieren, versuche ich, mit einzelnen Fahrgästen ins Gespräch zu kommen. 

Nicht alle wollen reden! Manche haben Kopfhörer und sind mit dem eigenen Handy beschäftigt. Auch die abweisende Antwort “Ich rede nicht über Politik” habe ich tatsächlich einmal gehört. Andere freuen sich, dass ich sie anspreche. Wie es ihnen denn gehe mit der Demokratie in Deutschland, frage ich. “Machen Sie sich Sorgen”?

“Deutschland ist gut” – die Frau aus der Ukraine ist zusammen mit ihrer Mutter in der Straßenbahn unterwegs – “aber das Deutschland, wie es vor zwanzig Jahren war” ergänzt sie. Seit zwanzig Jahren lebt sie hier, ihr Deutsch ist perfekt. Sie ist froh, auch jetzt nicht in der Ukraine zu sein. 

“Ich liebe Deutschland – aber das Deutschland vor zwanzig Jahren”, sagt sie mehrmals. Die Zuwanderung und auch das Gesundheitssystem gefallen ihr nicht mehr. Ich erzähle ihr von meiner komplizierten Operation vor ein paar Monaten und wie alles gut verlaufen ist. In dem sehr kompetenten Ärzteteam trugen fünf von sieben Ärzten arabische Namen. Für die teure Behandlung musste ich kaum etwas zahlen. In welchem Land der Erde wäre es mir besser gegangen? Sie hat ähnliche Erfahrungen bei der Erkrankung ihrer Mutter gemacht und stimmt mir zu. Es geht uns gut in Deutschland auch heute. Trotz – oder vielleicht  w e g e n  der Zuwanderung.

Haben wir es verpasst, uns als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen? Seit zwanzig Jahren?  Jetzt wundern wir uns, dass viele Menschen anders aussehen als wir und sich in Sprachen unterhalten, die uns fremd sind. Aber Deutschland heute gibt es nur noch als Einwanderungsgesellschaft. Und die Demokratie wird es nur mit ihnen zusammen geben.

Im Kasseler Norden steigen zwei junge Männer in die Bahn. Einer spricht gut Deutsch. Er sei vor neun Jahren aus Somalia gekommen, erzählt er. Als ich ihn frage, was er von Demokratie hält, sagt er spontan “Demokratie – nicht gut”. Und erzählt vom Bürgerkrieg in Somalia. Hält er den gewaltsamen Kampf um Macht für Demokratie? Wir kommen ins Gespräch. “Demokratie heißt: Jeder hat eine Stimme”, versuche ich ihm zu erklären. Demokratie ist in Deutschland. Langsam versteht er. Demokratie ist der Unterschied zwischen Somalia und Deutschland. “Deutschland ist gut”, sagt er  und zählt auf, was er alles erreicht hat. Seit neun Jahren ist er hier. Jetzt arbeitet er als Maler und Lackierer. Darauf ist er stolz. Und er ist froh, hier zu sein. Aber er bleibe eben ein Mensch zweiter Klasse. Zum Beispiel werde er viel öfter kontrolliert als die Deutschen in seinem Alter. “Deutsche können sich viel mehr erlauben”, sagt er. “Aber es ist ja auch ihr Land”, sagt er fast demütig. Dabei habe er einen deutschen Pass. Ich nicke. Natürlich weiß ich, dass auch das Wirklichkeit ist in Deutschland. 

Als er aussteigt, steigt eine ältere Frau zu und setzt sich neben mich. Ihr Rollator ist mit Tüten und Taschen bepackt. Wir sind nicht in allem einer Meinung. Aber wir sind uns schnell einig, dass es uns Nachkriegskindern richtig gut gegangen ist in dieser Demokratie. Und auch heute noch richtig gut geht, – wenn die Rente reicht. Sie hat viele Reisen gemacht, als ihr Mann noch lebte. Woher kommt bloß die Unzufriedenheit unter den Menschen, frage ich sie. Sie zuckt die Achseln und sagt: “Je mehr er hat, desto mehr er will!” Als sie aussteigt, bedanken wir uns beide für das nette Gespräch.

Beim Feedback mit Lara und Elin sind wir uns einig, dass diese Straßenbahnfahrt als Teil des Projektes “Platz nehmen für Demokratie” zwar anstrengend, aber sinnvoll und gut war. 

Ob ich es noch erleben werde, dass Menschen wie der junge Mann aus Somalia statt “Ich habe einen deutschen Pass” sagen “Ich bin Deutscher” ? 

Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft. Dass Menschen aus aller Welt mit uns leben, weil sie uns zutrauen, dass wir gerecht und menschenwürdig mit ihnen umgehen, darauf können wir stolz sein. Sie kommen, weil unsere Demokratie seit der Befreiung vom Faschismus funktioniert. Und es lohnt sich, diese Geschichte immer wieder zu erzählen! 

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