In Berlin Plötzensee

Ein Wort zum Montag, dem 2. September 2024

VON CORNELIA SENG

Nachdenklich sitze ich im Dokumentationsraum der Gedenkstätte Plötzensee. „Berlin Plötzensee“ war mir bisher nur durch das Attentat auf Hitler bekannt: Die Hinrichtung der Widerstandsgruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944. Doch hier wurden viel mehr Menschen ermordet. Ab 1933 wurde „Plötzensee“ zum zentralen Hinrichtungsort der Nationalsozialisten.

Im Dokumentationsraum sind auf einem Monitor die Namen aller Toten aufzurufen, die hier ermordet wurden. Es sind 2883 Namen! Und Menschen aus mehr als zwanzig Nationen. Etwa die Hälfte davon waren Deutsche.

Hermann Stöhr zum Beispiel: Er war evangelischer Christ und forderte die Einbeziehung politisch Verfolgter in die Fürbitten seiner Kirche und die praktische Solidarität mit Juden und Jüdinnen. Am 21. Juni 1940 wurde er in Plötzensee enthauptet. 

Oder Karlrobert Kreiten: Er war ein talentierter Pianist. Gegenüber einer Freundin seiner Mutter  hat er nach der Niederlage bei Stalingrad geäußert, dass der Krieg verloren sei. Und er hat Hitler „einen Wahnsinnigen“ genannt. Er wurde denunziert und vom „Volksgerichtshof“ unter Vorsitz des Richters Roland Freisler wegen „Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und defaitistischer Äußerungen“ zum Tode verurteilt und erhängt.

Der niederländische Kutscher Albert Tamboer findet zwei Fischkonserven in einem bombengeschädigten Haus und wird deshalb wegen Plünderung zum Tod verurteilt und am 30. November 1944 enthauptet. 

Fassungslos starre ich auf die originalen Dokumente. Die Namen der verantwortlichen Ermittler und Richter sind jeweils genannt. Was waren das für Richter? Wie konnten sie unter dem Vorwand des „Volkswillens“ das Recht derart beugen? Wie konnten sie zwei gestohlene Fischdosen als Schädigung des deutschen Volkes ansehen und ein derartiges Urteil fällen? Offensichtlich war ihnen „das Volk“ der Maßstab aller Dinge. Nicht das Recht. Das führt zu Rechtsbeugung, Unrechtsjustiz und richterlicher Willkür.

Was ist eigentlich aus diesen Richtern, die die vielen unrechtmäßigen Todesurteile verhängten, geworden? Hinweise auf ihren Verbleib gibt die Dokumentation nicht. Auch keine Andeutung im Blick auf die Aufarbeitung dieses Unrechts. Die verlogene Ideologie der Nazis, im Namen des „deutschen Volkes“ das Recht zu brechen, wird hier nicht thematisiert. Auch nicht, wie es zu diesem Unrecht kam. Wie viele dieser Richter haben nach dem Krieg in den beiden deutschen Staaten eingentlich weiter gearbeitet?

Mir fehlt eine Erinnerung an die „Allgemeinen Menschenrechte“ im Dokumentationsraum.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“

Das müsste dieser Unrechtsjustiz durch „Volkswillen“ deutlich gegenüber gestellt werden. In der Gedenkstätte Plötzensee kann man lernen, wohin es führt, wenn Menschenrechte nicht gelten.

Mir fallen die Worte Jesu aus der Bergpredigt ein:

Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Und auch: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,6 und 10).

Von Hermann Stöhr, dem evangelischen Christ, der in Plötzensee hingerichtet wurde, lese ich hier zum ersten Mal. Er hat diese Worte Jesu aus der Bergpredigt sicherlich gekannt.

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