AUF DEM FRIEDHOF UNTER DIE ERDE HORCHEN

Ein Wort zum Montag, dem 10. Juni 2024

VON CORNELIA SENG

Sie steckt zwei lange dünne Mikrophone in die Erde und setzt mir die Kopfhörer auf. An dem Recorder kann ich die Lautstärke regeln. Die Zeitung hat eine Aktion der britischen Künstlerin Michelle Atherton angekündigt. Und mich neugierig gemacht: „Auf dem Friedhof unter die Erde horchen“, heißt es da. Auf dem Westfriedhof in Kassel sind meine Eltern begraben. Was wird im Erdboden zu hören sein? 

Ich lausche überrascht. Was ich höre, klingt äußerst lebendig. Regen macht ähnliche Geräusche, Wasser, das fließt. Klopfen und Hämmern, dazu leichtes Trommeln. Da arbeitet etwas. Sind das Würmer, die Schwingungen auslösen? Steine, die rutschen? Faszinierend. Da ist viel los! So klingt das Leben im Erdboden.

Im Bibelkreis der Kirchengemeinde in dieser Woche war die Rede von dem großen König Salomo. Sprichwörtlich weise und steinreich war er. Über seinen Tod heißt es in der Bibel: „Und Salomo legte sich zu seinen Vätern und wurde begraben in der Stadt Davids, seines Vaters“ (1.Kö 11,43). Diese nüchterne Feststellung ist beeindruckend. Salomos Lebensgeschichte war zu Ende. Sie ist jetzt Geschichte. Er legte sich zu den Vätern. Und trotzdem reden wir an diesem Abend noch von ihm. Und nehmen seine Verdienste für das Volk und auch sein Scheitern war. 

Am Grab der Eltern geht mir durch den Kopf, was ich ihnen verdanke. Wie haben sie die Richtung meines Lebens mitentschieden? Auch heute noch fallen mir Sätze von Vater oder Mutter ein. Je älter ich werde, desto öfter – scheint mir. 

In der vergangenen Woche wurde in Frankreich der D-Day begangen. Wie wäre mein Leben verlaufen ohne das entschiedene Eingreifen der alliierten Nationen gegen Hitler? Ich mag es mir nicht vorstellen. Inzwischen haben sich die meisten der Zeitzeugen auch zu den Vätern und Müttern gelegt. Und es ist wichtig, an diesen Tag jedes Jahr zu erinnern. Jede Lebensgeschichte prägt das Leben der nachfolgenden Generationen. 

Christen glauben an die Auferstehung Jesu. Und an die Auferstehung der Toten. Gott hat auch die vergangenen Lebensgeschichten in seiner Hand. Und wird sie zum Leben in Ewigkeit erwecken.

“Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden; denn ihm leben sie alle”, hat Jesus den Gelehrten seiner Zeit auf ihre Frage nach der Auferstehung geantwortet (Lk 20, 38). Auch meine Lebensgeschichte wird bei ihm nicht vergessen sein. Er wird sie gewichten und in seiner Welt erhalten. 

Vermutlich sind Geräusche im Erdboden leicht zu erklären. Sie haben mich trotzdem überrascht. Um wieviel mehr wird das Leben in Gottes Welt überraschend sein!

PS: Was ich “unter der Erde” gehört habe, wurde von der Künstlerin digital aufgenommen. Bei einer der nächsten Ausstellungen im Museum für Sepulkralkultur in Kassel wird es als Beitrag zu hören sein. 

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