Der Musikpädagoge Helmke Jan Keden zur Gründung der Elberfelder Kurrende vor 100 Jahren
VON UWE BLASS
Herr Keden, am 22. März 1924 wurde die Elberfelder Kurrende gegründet. Was bedeutet Kurrende eigentlich?
Keden: Der Begriff wird nicht allen sofort vertraut sein. Er kommt aus dem Lateinischen und setzt sich wahrscheinlich zusammen aus „currere“ gleich laufen und „corradere“ gleich zusammenkratzen oder auch „corredo“ gleich Lebensunterhalt. Ursprünglich bezeichnete er kleine Gruppen von bedürftigen Singschülern, die bettelnd von Haus zu Haus zogen. Ab dem ausgehenden Mittelalter sangen diese bei sog. Kurrendenumgängen geistliche Lieder und hofften auf Lebensmittel. Bis zum 18. Jahrhundert gewannen Kurrenden schnell an Bedeutung. Dies hing auch mit der dynamischen Entwicklung des kirchlichen Schulwesens zusammen.
Im reformatorischen Schulwesen und angebunden an lutherische Gemeinden wurden die Kurrenden vielerorts zum festen Bestandteil des geistlich-öffentlichen Kulturlebens. Martin Luther sang übrigens in der Eisenacher Kurrende. Mit Bachs Tod 1750 erhielt das Kurrendenwesen einen Dämpfer. Erst mit dem Aufkommen der reformpädagogischen und kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegungen Ende des 19. Jahrhundert erhielt die Idee der Kurrende neue Dynamik. Zu dieser Zeit spielte allerdings die Funktion des Ersingens von Almosen keine Rolle mehr. Neben der geistlich-sittlichen Erziehung der heranwachsenden Kurrendaner sowie der kirchenmusikalischen Betätigung stand nun vor allem die Wohlfahrtspflege für Bedürftige im Vordergrund und zwar im Sinne christlicher Nächstenliebe. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Wuppertaler Kurrende.
In den Annalen heißt es, es waren 80 Knaben und 17 Männer, die aus einem Jungscharchor des CVJM entstanden. Wo trat der Chor denn auf?
Keden: Schaut man in die erste Festschrift aus dem Jahre 1949 zum 25jährigen Bestehen des Chores – damals hieß er noch Elberfelder Kurrende – finden sich hierzu folgenden Angaben: Unmittelbar nach Gründung fand das erste öffentliche Konzert des Chores schon am 8. April im großen Saal der Wuppertaler Stadthalle statt. Gesungen wurden u.a. Volkslieder, das Engelsterzett von Mendelssohn und Mozarts Ave Verum. Der Chor begleitete zahlreiche Gottesdienste in den Wuppertaler Stadtkirchen. Von Anfang an gehörten aber auch anspruchsvolle Oratorienkonzerte zum Programm der Kurrende. Ein Glanzpunkt der ersten Jahre war sicherlich die Aufführung der Matthäus-Passion von Bach in der Alten reformierten Kirche (heute CityKirche Elberfeld) und zwar am Palmsonntag, dem 9. April 1933. Erich vom Baur, der den Chor gegründet hatte und leitete, hatte das Werk in gerade einmal 8 Wochen einstudiert. Neben diesen beeindruckenden künstlerischen Leistungen unternahm die Kurrende auch schon zahlreiche Konzertreisen und engagierte sich von Beginn an mit Auftritten im sozialen Bereich, z.B. bei Benefizkonzerten oder im Rahmen der sogenannten Singumgänge.
Was war das?
Keden: Bereits ab Mitte Mai 1924 besuchte Erich vom Baur regelmäßig sonntagvormittags mit der Kurrende Bedürftige und Kranke, sang auf Straßen und Plätzen, in Altenheimen und Krankenhäusern, während des Krieges auch in Bunkern – und zwar nicht mehr wie im ausgehenden Mittelalter, um Almosen zu erbetteln, sondern immer mit der sozialen Absicht, den Menschen durch das geistliche Lied Erbauung und Trost zu spenden. Dieses Engagement zieht sich durch die gesamte 100jährige Geschichte des Ensembles und ist bis heute wichtig für die Identität der Kurrende, zumal – oder gerade weil – sich der Chor in unserer säkularisierten Welt weiterhin fest in der christlichen Tradition verankert sieht.
Die Kurrende wurde bald sehr erfolgreich und erhielt in der Herzogstraße sogar ab 1932 eigene Proberäume, die aber beim Angriff auf Wuppertal im Juni 1943 komplett zerstört wurden. Wie ging es dann weiter?
Keden: Das war ein herber Schlag für die Wuppertaler Kurrende, zumal auch drei Kurrendaner bei dem Angriff ihr Leben ließen. Doch Erich vom Baur ließ sich davon nicht beirren und arbeitete anfangs mit zunächst acht Knaben in seiner Privatwohnung weiter. Schon zur Reformationsfeier am 31. Oktober 1943 konnte sich der Chor wieder in der Kreuzkirche der Öffentlichkeit präsentieren. Aufgrund ständiger Luftangriffe musste der Proben- und Konzertbetrieb in der Folgezeit jedoch weitgehend eingestellt werden. Insgesamt starben 70 ehemalige Kurrendaner im Zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende trat Erich vom Baur bereits am Reformationstag 1945 mit der Kurrende in der Friedhofskirche erneut auf. Und schon 1948 zählte der Chor wieder 160 aktive Sänger, die aus dem gesamten Stadtgebiet kamen, so dass man das Ensemble ein Jahr später in Wuppertaler Kurrende umbenannte.
Auch die Chorwerke wurden mit der Zeit immer anspruchsvoller. Was gehörte denn zu den Aufführungswerken?
Keden: Wie bereits erwähnt, erreichte der Chor sehr schnell nach seiner Gründung ein enormes Leistungsniveau. Entsprechend zählten wichtige Standardwerke der geistlichen Chormusik von Bach, Mozart, Händel, Mendelssohn und Haydn zum Repertoire. Neben diesen Klassikern werden bis heute auch immer wieder zeitgenössische Werke aufgeführt bzw. sogar uraufgeführt. Bisweilen beteiligt sich die Kurrende auch an Opernaufführungen.
Ein solch hohes Leistungsniveau über lange Zeit aufrecht zu erhalten, ist nicht so leicht. Denn gerade in einem Knabenchor führt der naturgemäße Stimmbruch dazu, dass innerhalb weniger Jahre alle Stimmen nach und nach ersetzt werden müssen. Nur durch kontinuierliche Nachwuchsarbeit lässt sich hier entgegenwirken, was sich auch gut bei der Wuppertaler Kurrende erkennen lässt. Im Laufe ihres Bestehens wurde die Nachwuchsarbeit immer weiter professionalisiert und umfasst auch nicht-musikalische Angebote, um junge Menschen nicht nur für das leistungsorientierte Singen, sondern die gesamte Kurrendenidee zu begeistern. So war und ist es möglich, dass die Wuppertaler Kurrende auf ein äußerst breit gefächertes – zumeist christlich geprägtes – Repertoire zurückgreifen kann, welches bis heute weite Publikumskreise anspricht.
Die Wuppertaler Kurrende ist als Einrichtung des Kirchenkreises Wuppertal heute der älteste Knabenchor der Evangelischen Kirche im Rheinland und weit über die Stadtgrenzen hinaus aktiv. Wo treten sie denn überall auf?
Keden: Der Wirkungskreis des Chores ist enorm. Die Wuppertaler Kurrende hat seit ihrer Gründung zahlreiche Konzertreisen unternommen, z.T. bis nach Übersee. Sie nahm erfolgreich an vielen renommierten Chorwettbewerben teil und ist seit den 1950er Jahren auch auf vielen Rundfunk- und Fernsehaufnahmen zu hören. Zudem wurden zahlreiche LPs und CDs produziert, die von dem durchweg hohen Niveau des Ensembles zeugen. Darüber hinaus bestehen auch Kooperationen mit anderen renommierten Knabenchören Deutschlands. Auch der innerdeutsche Austausch im geteilten Deutschland wurde vorangetrieben.
Heinz-Rudolph Meier leitete ja auch einige Jahre den Chor der Bergischen Universität. Welche Erfolge konnte er verbuchen?
Keden: Heinz-Rudolf Meier, der die Kurrende von 1979 bis 2005 leitete, erwarb sich besondere Verdienste: 1984 und im Wendejahr 1989 bereiste er mit der Wuppertaler Kurrende den Osten Deutschlands.
Unter der Ägide Heinz-Rudolph Meiers wurde die musikalische Qualität der Wuppertaler Kurrende weiter ausgebaut. Höhepunkte seines Schaffens waren neben der Aufführung der Matthäus-Passion auch der erstmalige Gewinn des Deutschen Bundeschorwettbewerbs in der Kategorie Knabenchöre. Zu seinen Verdiensten gehört ebenso die Gründung der Elberfelder Mädchenkurrende im Jahre 2002. Auch im sozialen Bereich zeigte Meier sehr großes Engagement. Seine Probenarbeit muss wohl einzigartig gewesen sein. Ich selbst durfte die Lehrtätigkeit Meiers im Rahmen meines Schulmusikstudiums an der Bergischen Universität persönlich kennen lernen, wo er neben der Leitung des Unichores auch das Fach Dirigieren unterrichtete – das hat mich bis heute nachhaltig beeindruckt.
Wo kann man denn den Chor demnächst wieder hören?
Keden: Die Kurrende tritt permanent auf – schauen Sie einfach mal auf die Homepage des Ensembles, die bietet einen guten Überblick. Für mich sind die Highlights in diesem Jahr die große Jubiläumsveranstaltung am 26. Juni in der Wuppertaler Stadthalle – u.a. mit der Aufführung von Mendelssohns Lobgesang – und natürlich wieder die traditionellen Quempassingen am 14. Dezember in der Christuskirche und 15. Dezember in der Friedhofskirche.
Seit 2017 lehrt Prof. Dr. Helmke Jan Keden Musikpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal.