ForuM-Studie: Höheres Ausmaß als bisher bekannt

Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland höher als bisher öffentlich bekannt

Der Forschungsverbund „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland (ForuM)“ stellt heute in Hannover die Ergebnisse seiner dreijährigen Forschungstätigkeit vor. Seit Ende 2020 hat der interdisziplinäre Forschungsverbund ForuM Strukturen und Bedingungen untersucht, die sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch in der evangelischen Kirche und Diakonie begünstigen. Sechs Teilprojekte haben die Erfahrungen der Betroffenen, die institutionellen Bedingungen von evangelischen Gewaltkonstellationen, den politischen und kulturellen Kontext sowie das Ausmaß der Übergriffe und die bisherige Aufarbeitung in den Blick genommen. „Die evangelische Kirche und die Diakonie stehen erst am Anfang ihrer Beschäftigung mit der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt“, sagt Prof. Dr. Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover, Koordinator des Forschungsverbundes.

Die Studie liefert deutliche Belege für ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt in den evangelischen Kirchen und diakonischen Werken. Auf Basis einer strukturieren Erfassung von Fällen, die den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannt sind, sowie durch die Durchsicht von Disziplinarakten von Pfarrpersonen konnten 1.259 Beschuldigte und 2.225 Betroffene ermittelt werden. Das Durchschnittsalter der Betroffenen bei der ersten Tat lag bei ungefähr 11 Jahren. Es gibt Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht strukturiert erfasst werden konnten. Exemplarisch zeigt die ForuM-Studie zudem, dass die genannten Zahlen das Ausmaß von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche unterschätzen. Diese genannten Zahlen sind daher lediglich die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ und stellen also nicht das ganze Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie dar.

Die ForuM-Studie zeigt deutlich, dass sexualisierte Gewalt in evangelischen Zusammenhängen nicht reduzierbar auf bestimmte lokale oder zeitliche Umstände wie beispielsweise die frühere Heimerziehung, den liberalen Sexualitätsdiskurs der 1970er-Jahre oder die unterschiedliche politische Rahmung in Bundesrepublik und DDR ist. Vielmehr konnte eine Vielzahl von Fällen in nahezu allen Angeboten und Bereichen der evangelischen Kirche zu unterschiedlichen Zeiten nachgewiesen werden. Übergriffe, Missbrauch und sexuelle Gewalt stellen demnach ein Problem und eine Herausforderung der gesamten evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland dar. Sie finden sich unter anderem in Kindertagesstätten, Kirchengemeinden, der evangelischen Jugendarbeit, in Pfarrhäusern und Pfarrfamilien, in Heimen und in Kollegien.

Weitreichende Folgen für Betroffene und den Aufarbeitungsprozess

„Menschen, die in der evangelischen Kirche oder Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren, berichten davon, dass sie in der Regel von der evangelischen Kirche alleine gelassen und ihre Erfahrungen lange Zeit ignoriert oder aus sozialen Zusammenhängen verdrängt wurden“, erklärt Martin Wazlawik. „Die erlebte sexualisierte Gewalt bringt häufig schwere gesundheitliche, psychische und soziale Folgen mit sich.“

In den Ergebnissen der Studie zeigt sich eine Reihe von evangelischen Besonderheiten, die sexualisierte Gewalt ermöglichen und begünstigen können und die Aufarbeitung erschweren. Eine Diffusion von Verantwortung in evangelischen Strukturen, der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur sowie die Selbsterzählung der Fortschrittlichkeit in der evangelischen Kirche blockieren die bisherigen Aufarbeitungsversuche. Der Umgang mit sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche als ein Problem, welches sie selbst betrifft, erfolgt historisch verspätet, häufig unsystematisch und undurchsichtig.

Zudem lassen sich unter anderem unklare Zuständigkeiten, eine häufig vorkommende Grenzen- und Distanzlosigkeit im Umgang miteinander und ein übergroßer Wunsch nach Zusammengehörigkeit feststellen. Die föderale Struktur der evangelischen Kirche stellt eine Herausforderung für den Umgang mit sexualisierter Gewalt dar. Die Ergebnisse der Analyse von bisherigen Aufarbeitungsprozessen verdeutlichen, wie unzureichend die bisher unternommenen Schritte der evangelischen Kirche und Diakonie sind. Klare Regeln zum Umgang mit bekannten Fällen sowie eine systematische Dokumentation fehlen bisher. Aufarbeitungsprozesse erscheinen deshalb intransparent und Verfahren zum Umgang damit noch wenig etabliert.

Perspektiven für nächste Schritte der evangelischen Kirchen und der Diakonie

Darüber hinaus liefert die Studie umfangreiche Empfehlungen für weitere Schritte im Bereich Prävention, Intervention und Aufarbeitung in der evangelischen Kirche und Diakonie. Unter anderem werden die Entwicklung und verbindliche Umsetzung fachlicher Standards für die gesamte evangelische Kirche und Diakonie, die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle sowie die Verankerung der Thematik in der Ausbildung aller Berufsgruppen empfohlen. Weiterhin wird auf noch offene Fragen und weiteren Forschungsbedarf verwiesen.

Die Bergische Universität Wuppertal war mit einem der sechs Teilprojekte an der ForuM-Studie beteiligt. Unter der Leitung von Prof. Fabian Kessl wurde, in Kooperation mit der Fachhochschule Potsdam, in diesem Teilprojekt die bisherige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im evangelischen Kontext am Beispiel evangelischer Kirchengemeinden und Kindertagesstätten in vier Fallstudien untersucht.

Den Abschlussbericht und die Zusammenfassung der Ergebnisse finden Sie als Download unter www.forum-studie.de.

Der Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ bietet mit den Ergebnissen einen ersten breiteren Ansatz zur Erforschung und Analyse von Aspekten sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. Diese können als empirische Basis für weitere Aufarbeitungsschritte der evangelischen Kirche und Diakonie genutzt werden. Forschung im Kontext von Aufarbeitungsprozessen kann Wissen und Grundlagen zur Verfügung stellen, nicht jedoch weitere eigenständige Schritte der institutionellen Aufarbeitung, Anerkennung und Erinnerung der evangelischen Kirche und Diakonie ersetzen. Dem Forschungsverbund ForuM gehören Forschende aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen an (Soziale Arbeit, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, forensische Psychiatrie, Sexualwissenschaft, Kriminologie). Koordiniert wird der Forschungsverbund an der Hochschule Hannover. In den Teilprojekten sind Menschen, die sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirche und Diakonie erfahren haben, in verschiedenen Formen beteiligt. Der Forschungsverbund wurde von der EKD finanziell gefördert. Die Unabhängigkeit der Forschung wurde vertraglich abgesichert.

Eine Zusammenfassung als PDF-Datei:

Hier der Abschlussbericht als PDF-Datei:

Beitragsfoto © Colourbox

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.