“WIR WEIGERN UNS, FEINDE ZU SEIN” II

Cornelia Seng, vor ihrem Ruhestand Lehrerin und Pfarrerin in Wermelskirchen und Gründerin sowie Sprecherin der Flüchtlingsinitiative „Willkommen in Wermelskirchen“, führt im Forum Wermelskirchen einen Dialog mit Dr. Housamedden Darwish, 2015 als Flüchtling aus Syrien nach Wermelskirchen gekommener Philosoph und hier in der Flüchtlingsinitiative aktiv geworden. Den ersten Teil des schwierigen Gesprächs über Juden und Palästinenser, über Terror und Krieg können Sie hier nachlesen. Die beiden Gesprächspartner, Freunde geworden in der gemeinsamen Arbeit in Wermelskirchen, stehen nunmehr nach dem Überfall der Hamas auf Jüdinnen und Juden, auf den Staat Israel auf unterschiedlichen Seiten. Die deutsche Theologin ergreift Partei für Israel und gegen den menschenfeindlichen Terror, der arabische Philosoph steht auf der Seite der Palästinenser und müht sich, gegen eine vermeintlich „einseitige“ deutsche Position deren Interessen kenntlich zu machen. Wir setzen heute den Dialog an der Stelle fort, wo er im ersten Teil endete. Für das Verständnis der Position von Dr. Darwish wäre eine Lektüre des ersten Beitrags gewiß hilfreich. Sind die Unterschiede zwischen den beiden Freunden nicht doch tiefer, als sie beide zunächst annahmen? Sind die Gräben überwindbar? Ist einer der beiden im Unrecht und der oder die andere im Recht? Hier der zweite Teil eines kompliziert schriftlich geführten und aus fremden Sprachen in eine weitere übersetzten Dialogs.

Deine sorgfältigen Ausführungen werden hier mit dem Begriff „Kontextualisierung“ bezeichnet, es heißt dann „die Israelische Taten nach dem 7. Oktober geschahen nicht im luftleeren Raum“. Natürlich nicht! Was geschieht schon im „luftleeren Raum“? Aber sie sind in ihrer Grausamkeit nicht zu überbieten! Und als solche haben sie mich erschüttert. Vielleicht ist das die „Palästinische Position“, die Du beschreibst. Ich (wir) fühlen sie so, als ob unsere eigenen Kinder und Enkelkinder angegriffen und grausam getötet worden wären. Wird die Gewalt jetzt weitergehen in unserem Land? Muss ich mich fürchten vor den Sympathisanten der Israelis hier in Deutschland?

Ich verstehe es wirklich nicht: Warum ist es für Dich so schwer, die Besonderheit des Israelische Verbrechens nach dem 7. Oktober anzuerkennen? Und darüber, dass alle Menschen gleich wert sind, brauchen wir beide nicht zu streiten. Aber ein Siedler-Kolonialstaat, der das Land eines anderen Staates besetzt und Zehntausende unschuldige Menschen tötet, unterscheidet sich vom Widerstand gegen diese Besatzung, der Hunderte seiner Menschen tötet. Kann man ein Leid mit einem anderen aufwiegen? Sollte es etwa ein Menschenrecht auf Rache geben? Maßlose Rache?

Ohne die Besatzung und ihre vielen schweren Verbrechen – Mord, Vertreibung, Verhaftung, Ablehnung friedlicher politischer Lösungen usw. – hätte es keinen bewaffneten Widerstand gegen diese Besatzung gegeben, und der Angriff vom 7. Oktober hätte nicht stattgefunden, und Hunderte von Israelis wären nicht getötet worden, weder Unschuldige noch Besatzungssoldaten. Hat Israel wirklich damit gerechnet, Hamas oder die Palästinenser würden sich nicht verteidigen? Die Palästinenser kämpfen seit mehr als fünfzig oder siebzig Jahren darum, ihr Land von der kolonialen Besatzung durch Siedler zu befreien und die Verbrechen loszuwerden. Israel weiß, dass die Palästinenser Operationen durchführen werden, um dieser Besatzung Widerstand zu leisten. Was also war der Plan? Wer ist für die Tötung unschuldiger Israelis verantwortlich?

Ich verteidige die Hamas und ihre brutalen Angriffe gegen unschuldige Menschen nicht. Aber fünfzig Jahre Besatzung und Ablehnung aller Friedensinitiativen haben gezeigt, dass die israelischen Behörden, ob rechts oder links, nicht bereit sind, das Recht des palästinensischen Volkes anzuerkennen, seinen unabhängigen Staat zu gründen und in Freiheit und Würde zu leben. Was gibt Dir Hoffnung, dass Israel die Umsetzung internationaler Resolutionen akzeptiert und das Völkerrecht einhält, die Besatzung beendet, die Siedlungen auflöst und die Rückkehr Hunderttausender Vertriebener in ihre Häuser akzeptiert, aus denen sie vertrieben wurden? Israel ist mit seiner Armee und der Unterstützung, die es vom Westen erhält, zu stark, um eine gerechte Lösung der Palästinenserfrage zu akzeptieren. Die Palästinenser haben alle friedlichen Verhandlungsmethoden ausprobiert, aber keine davon hat funktioniert, und es scheint, dass sie in absehbarer Zukunft auch nicht funktionieren.

Wie Du siehst, kann ich dieselben Wörter verwenden, die Du benutzt, nachdem ich das Wort Hamas oder Palästinenser anstelle des Wortes Israel oder Israelis eingesetzt habe und umgekehrt. Das Problem besteht darin, dass ich bereit bin, die Hamas zu verurteilen und die Besonderheit ihrer Angriffe und Tötungen unschuldiger Israelis anzuerkennen, aber diejenigen, die die deutsche Position vertreten, sind nicht bereit, Israel in gleicher Weise zu verurteilen und die Besonderheiten der Angriffe und Tötungen unschuldiger Palästinenser anzuerkennen. Es gibt viele arabische Länder und arabische Politiker, die die Angriffe der Hamas verurteilten, sie als terroristisch betrachteten und ihre Präsenz in ihren Ländern verboten haben. Gibt es einen deutschen Politiker, der das getan hat? Hast du das gemacht? Bist Du dazu in der Lage oder bereit?

„Ich werde kurz auf drei in Deiner Stellungnahme angesprochene Themen eingehen: Kontextualisierung, Besonderheit (des 7. Oktober) und die Angst.

Indem Du den Begriff „Kontextualisierung“ benutzt, scheinst Du Dich oberflächlich betrachtet von der deutschen (und israelischen) politischen Position zu unterscheiden, die sich weigert, über irgendeinen Kontext zu sprechen, um zu verstehen oder zu analysieren, was am 7. Oktober geschah. Du weißt vielleicht, dass der Generalsekretär António Guterres von den Vereinten Nationen, der die Hamas-Angriffe verurteilte und sie als völlig ungerechtfertigt ansah, war einer derjenigen, die sagten: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Hamas-Angriffe nicht im luftleeren Raum stattfanden. Rechtfertigen sie für Israel den Massenmord, den Gaza erlebt.“ Aus diesem Grund wurde Guterres heftiger israelischer Kritik ausgesetzt und forderte eine Entschuldigung und einen Rücktritt. Die deutsche politische Haltung kam in der Überschrift eines Textes der deutschen Zeitung “Die Zeit” deutlich zum Ausdruck: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext.“ Die Weigerung, über einen Kontext für die Angriffe der Hamas zu sprechen, zielt darauf ab, jegliches Verständnis oder jede Analyse und jede Möglichkeit, über eine praktische Lösung nachzudenken, zu verhindern und macht die Hamas aufgrund ihrer bösen Natur zu einem absoluten Übel, das um jeden Preis ausgerottet und beseitigt werden muss. Andererseits kommt es bei der Auseinandersetzung mit den israelischen Bomben- und Invasionsoperationen stark auf den Kontext an, da der Kontext hier in der politischen Position Deutschlands (und der Israelis) präsent ist und nicht darin besteht, das Geschehene zu verstehen oder zu analysieren und nach Lösungen dafür zu suchen, sondern um alles zu rechtfertigen, was Israel tut, und um jede Verurteilung davon abzulehnen. Von hier aus verstehen wir, wie der deutsche Vizekanzler, der die politische Position Deutschlands vertritt, es wagte, jede Forderung abzulehnen, Israel solle die Bombardierung des Gazastreifens einstellen, selbst nachdem dreizehntausend Zivilisten getötet wurden, darunter etwa fünftausend Kinder, zehnmal so viele Israelische Opfer bei den Anschlägen vom 7. Oktober.

Ist Deine Position anders als die oben genannte deutsche (und israelische) Position? Das glaube ich nicht. Du erkennst an, dass es einen Kontext gibt, aber diese Anerkennung ändert nichts an Deiner Haltung gegenüber den israelischen Bombenangriffen und der Invasion des Gazastreifens. Vielmehr begründest Du dies damit, dass Du mit der Begründung, dass dieser Treibstoff für militärische Zwecke genutzt werden könne, den Zugang zu Krankenhäusern verhindern. Vielleicht rechtfertigst Du aus dem gleichen Grund, dass Israel mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen an Nahrungsmitteln, Wasser, Strom, Medikamenten und allen Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens hindert. In jedem Fall ist diese Rechtfertigung in der deutschen (und israelischen) politischen Position vorhanden. Um diese Rechtfertigung zu rechtfertigen oder durchzuführen, betonst Du die Spezifität der Angriffe der Hamas. Übrigens erkenne ich die Besonderheit der Angriffe der Hamas an, aber ich sehe eine weitere Besonderheit in den Angriffen Israels. Ich sehe nicht, dass diese Besonderheiten das rechtfertigen, was Israel tut und was die Hamas getan hat, als sie Zivilisten tötete und entführte. Sogar einige westliche Verbündete Israels haben begonnen, von Israel ein Ende dieser wahllosen Angriffe auf palästinensische Zivilisten zu fordern. Frankreichs Macron forderte Israel ausdrücklich auf, das Töten von Babys einzustellen, und Kanadas Trudeau auch. Dennoch steht Deutschland voll und ganz hinter der israelischen Position und weigert sich, Kritik daran zu üben.

Du fragst: „Muss ich mich fürchten vor den Sympathisanten der Palästinenser hier in Deutschland?“ Ich denke, dass Hamas-Anhänger zu schwach sind, um für Dich oder andere eine tatsächliche Bedrohung darzustellen, und ich vermute, dass sie hier in Deutschland überhaupt niemanden ins Visier nehmen. Ich bin absolut gegen jede Drohung oder jeden Angriff, ob verbal oder physisch, gegen jede andere Person in Deutschland, egal ob Jude/Israeli, Deutscher oder Palästinenser. Ich denke, Du weißt, dass es diesbezüglich viele Gerüchte und Übertreibungen gibt. Vielleicht reden wir später darüber. Ich möchte darauf hinweisen, dass sich Millionen Araber und Muslime, die sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern für die palästinensische Sache einsetzen, unterdrückt, verfolgt und diskriminiert fühlen. Viele von ihnen haben Angst, ihre Meinung zu diesem Thema zu äußern, aus Angst vor Verhaftung, Entlassung, Abschiebung usw. Ich traf Dutzende von ihnen und erhielt von ihnen und anderen den Rat, vorsichtig zu bleiben und nichts zu sagen in der Öffentlichkeit zu diesem Thema. Dies existierte bereits vor den Anschlägen vom 7. Oktober, wurde aber danach stärker.

Viele deutsche Medien bezeichneten Žižeks Rede auf der jüngsten Frankfurter Ausstellung als „Skandal“, obwohl er die Hamas-Angriffe kategorisch, uneingeschränkt und unmissverständlich verurteilte. Žižek sagte, seine Rede sei in den Augen der „deutschen politischen Position“ ein Skandal gewesen, “nicht weil ich zu extrem gewesen bin, sondern gerade weil ich sehr ausgeglichen und gemäßigt gewesen bin!” Die Befürchtung bestand darin, dass ein solcher Ansatz einige, die in ihrer vollen Unterstützung für Israel schwanken, dazu verleiten könnte, auch das Leid der Palästinenser zu sehen. “Es ist einfach, jemanden zu verurteilen, der „Tod für Israel“ skandiert – viel einfacher als jemand, der den Hamas-Angriff bedingungslos verurteilt UND auf seine Hintergründe aufmerksam macht.“

Viele in der arabisch-islamischen Welt glauben, dass der Skandal genau oder hauptsächlich darin liegt, was Israel nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern seit seiner Gründung und Besetzung der palästinensischen Gebiete tut. Der Skandal liegt vor allem in der Position, die ihn unterstützt, in seiner Besetzung, seiner Aggression, seiner Tötung und seiner Unterdrückung Unschuldiger. Das ist der Skandal, der viele Menschen schockiert und sie es nicht glauben können. Leider tritt dieser Skandal in der „deutschen politischen Lage“ sehr deutlich in Erscheinung.

Ein bekannter deutscher Soziologe sagte mir: „Es wäre naiv, eine andere offizielle deutsche Position als die eingenommene zu erwarten.“ Viele in der arabisch-islamischen Welt glauben, dass es naiv und sicherlich moralisch und politisch schlecht sein könnte, eine solche Position einzunehmen und zu unterstützen. Die Tatsache, dass diese Position erwartet wird, macht sie jedenfalls nicht gerechtfertigt oder akzeptabel.

Dass Du meine Worte benutzt und nur die Wörter austauschst, schockiert mich. Zeigt es doch endgültig, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen. Ich muss mir eingestehen: es gibt nur dieses Entweder – Oder. Bisher hatte ich auf Verständigung durch Zwischentöne gesetzt. Aber es gibt nur Schwarz oder Weiß, kein Grau. Auch die Betrachtung der Fakten lässt offensichtlich keine Annäherung zu. Für mich ist nach wie vor ein Massaker etwas anderes als die Verteidigung durch eine Armee Soldaten. Der 7. Oktober ist ein Einschnitt. Und es war zu erwarten, dass Israel sich verteidigen würde. Ich bleibe dabei: Israel hat alles Recht sich zu verteidigen. Das dadurch entstandene Leid in Gaza ist nicht ihnen anzulasten. Punkt. Das sieht der bekannte Philosoph Jürgen Habermas (https://forumwk.de/2023/11/14/grundsaetze-der-solidaritaet-eine-stellungnahme/ ) ganz klar auch so. Da ist er anderer Meinung als Slavoj Žižek. Vermutlich vertritt er, was Du “die deutsche Position” nennst.

Kontextualisierung

Von “Kontext” oder “Kontextualisierung” spreche ich tatsächlich anders als António Guterres. Einerseits denke ich, alles hat seinen Kontext: Es gibt keinen “luftleeren Raum”. Aber muss der Kontext mich zwangsläufig bestimmen? Kann der Mörder sagen: “Ich hatte nun mal eine schlechte Kindheit, deshalb konnte ich nicht anders?” Und alle Schuld auf den Kontext schieben? Nein, auch der schlimmste “Kontext” lässt einem immer eine Wahl. Ich kann und muss selbst entscheiden (und verantworten) was ich tue. Auch die Palästinenser hatten eine Wahl und haben sich für Brutalität entschieden. Es gibt zum Glück auch andere, zivilgesellschaftliche kleine Gruppen, die es wagen, miteinander in Frieden zu leben.

Meine Angst

Im Moment seien die Sympathisanten der Palästinenser nur zu schwach, um mich hier in Deutschland anzugreifen, schreibst Du. Meinst Du das wirklich? Das gibt denen recht, die Aufrüstung und Politik der Stärke und Macht befürworten. Sollten die recht behalten, die vor der Einwanderung der Muslime gewarnt haben? Das widerspricht allem, was wir in der Flüchtlingsiniative “Willkommen in Wermelskirchen” gemeinsam gelebt haben: Nämlich dass jeder Mensch, egal welchen Glaubens er oder sie ist, Freundlichkeit und Respekt verdient. Sollte ich mich so geirrt haben?

Gibt es noch einen Weg?

Wenn es Sinn haben soll, dass wir beide weiter miteinander reden, dann sehe ich nur noch einen einzigen Weg. Einen Weg über den Abgrund der unterschiedlichen Positionen hinweg: Zuerst müssen wir beide anerkennen, nicht im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Es könnte sein, dass der andere (auch) recht hat. Es gibt keine “objektive” Position. Ich würde sagen: Keiner von uns beiden ist Gott. Er allein kennt die absolute Wahrheit. Ihm allein traue ich den Überblick zu. Wird Dir das schwer fallen?

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