Die Wunde am Kopf

Ein Wort zum Montag, dem 13. November 2023

VON CORNELIA SENG

Die Dunkelheit in der Welt, der Krieg im Nahen Osten, der Hass, der sich auch bei uns breitmacht, bedrücken mich. An solchen Tagen tut es mir gut, zum Schloss Wilhelmshöhe ins Museum „Alte Meister“ zu gehen. Schon der Weg durch den Bergpark hier in Wilhelmshöhe ist schön. Ich komme an einer friedlich grasenden Schafherde vorbei. Auch das jetzt goldenen Laub der Bäume erfreut mich. Die starke Präsenz der alten Gemälde im Museum, die Stille und die klare Ordnung in den Räumen tun gut. 

Heute bin ich hier, um mir das Bild von Franz Floris (1519-1570) „Adam und Eva beweinen den ermordeten Abel“ noch einmal anzusehen. 

Das Bild ist in düsteren Farben gemalt. Das entspricht meiner Gemütslage. 

Wie hat der Maler damals den ersten Brudermord gesehen? Adam und Eva samt dem getöteten Abel beherrschen das Bild. Aller Schmerz der Welt scheint in dem Gesicht von Eva zu liegen. Mit Zärtlichkeit und Verzweiflung sieht sie ihren toten Sohn an. Das Blut sickert ihm aus dem Kopf. Hatte sie ihn dafür geboren?

Aber in der biblischen Geschichte (1. Mose 4, 1- 16) kommen Adam und Eva gar nicht vor! Ich wundere mich. Stattdessen spricht Gott lange mit Kain. Ja, er redet auf Kain ein: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ In diesen Tagen haben wir uns an die Nacht der Pogrome 1938 erinnert. Der Satz könnte auch zu uns gesagt sein. 

Wo ist Hoffnung? Ganz klein, oben links in einem hellen Streifen hat der Maler Gott wiedergegeben, als wollte er sagen: “Der Silberstreif am Horizont geht allein von Gott aus auf der ansonsten düsteren Erde“. Und eine kleine Gestalt ist erkennbar, die zu Gott hin flieht: der Mörder Kain.

Mir fällt das Gedicht von Hilde Domin ein: 

Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen

Fängt es anders an zwischen uns allen? Abel ist nicht aufgestanden. Der Brudermord ist aktueller denn je. Der Streit im Nahen Osten entzweit die ganze Welt. Wie hält Gott das aus?

In der Urgeschichte schützt Gott den Mörder Kain. Erstaunlicherweise! Er wendet sich nicht von ihm ab. Im Gegenteil!  Er macht ein Zeichen an ihm. Das Kainszeichen. Es wird Kain schützen. 

Wir alle sind Kinder Kains.

Nachdenklich gehe ich nach Hause. Mit meinem Kainszeichen. Und mit der Hoffnung auf Vergebung.

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