“Im großen Stil” abschieben?

VON FABIO GHELLI

Den Beitrag übernehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Mediendienst Integration. Dort finden Sie weitere Quellenhinweise, Informationen und Links.

Bundeskanzler Olaf Scholz kündigt an, dass die Bundesregierung mehr und schneller abschieben wolle. Geplant ist die fünfte Änderung des Abschieberechts seit 2015. Was haben die vorherigen Reformen gebracht?

Die Bundesregierung strebt mit einem neuen Gesetzespaket schnellere Rückführungen an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte nun in einem Interview: Es müsse “endlich im großen Stil” abgeschoben werden. Er schlägt unter anderem vor, dass die Ausländerbehörden für Abschiebungen rund um die Uhr erreichbar sein sollen und schnellere Asylverfahren in Erstaufnahmeeinrichtungen stattfinden sollen.

Das geplante Gesetzespaket sieht vor:

  • Der “Ausreisegewahrsam” soll auf 28 Tage verlängert werden.
  • Polizeibeamt:innen sollen Wohnungen und Unterkünfte von Geflüchteten ohne richterliche Genehmigungen betreten dürfen.
  • Abschiebungen sollen künftig nicht mehr angekündigt werden.
  • “Schleuser” und Mitglieder von kriminellen Vereinigungen sollen schneller ausgewiesen werden.

Bei dem Gesetzentwurf handelt es sich um das fünfte Reformpaket zum Thema Abschiebung seit 2015.

Die geltenden Gesetze ermöglichen bereits ein hartes Durchgreifen bei Abschiebungen: Unangekündigte Abschiebungen in der Nacht, Durchsuchungen der Wohnräume, Konfiszierung von Handys, Trennung von Familienangehörigen kommen schon jetzt oftmals vor – wie die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl betont. Selbstverletzungs- und Suizidversuche kommen bei Abschiebungen vor: Zwischen 1993 und 2022 hat die “Antirassistische Initiative Berlin” 443 Todesfälle bei Abschiebungen gezählt. Zuletzt hat sich Mitte Oktober 2023 ein Mann aus Nigeria während seiner Abschiebung in den Tod gestürzt.

Trotz wiederholter Verschärfungen des Rückführungs- und Ausweisungsrechts ist die Zahl der Abschiebungen nicht gestiegen. Während der Covid-19-Pandemie ist sie stark zurückgegangen und steigt seit 2022 wieder an.

Exkurs: Wie viele Abschiebungen und “freiwillige Ausreisen” gibt es? 

Stand: Aug. 2023

Im ersten Halbjahr 2023 wurden 7.861 ausreisepflichtige Personen aus Deutschland abgeschoben. 2.473 von ihnen wurden im Rahmen der Dublin-III-Verordnung in einen anderen EU-Mitgliedstaat überstellt. Das sind rund 27 Prozent mehr Abschiebungen als im Vorjahreszeitraum.

Zum Stichtag 30 Juni 2023 wurden 4.892 Anträge zur geförderteten Ausreise im Rahmen des REAG/GARP-Programms bewilligt. Darüber hinaus haben 2.309 ausreisepflichtige Personen im Rahmen geförderter Ausreiseprogramme der Länder Deutschland freiwillig verlassen.

Die Gesamtzahl der Personen die im ersten Halbjahr 2023 freilwillig mit einer sogenannten “Grenzübertrittsbescheinigung” ausgereist sind, liegt bei 14.269.

2022 gab es 12.945 Abschiebungen – darunter 4.158 Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung. Etwa 7.900 Personen haben Deutschland 2022 über das REAG/GARP-Programm freiwillig verlassen.

Es gibt mehrere Gründe, weshalb ausreisepflichtige Personen wie etwa abgelehnte Asylbewerber:innen oder Ausländerinnen, die kein gültiges Visum haben, nicht abgeschoben werden: Viele von ihnen haben keine Reisedokumente. Ebenfalls kann eine Person nicht abgeschoben werden, wenn ihr im Herkunftsland Gefahr für Leib und Leben droht.

Im ersten Halbjahr 2023 ist die Zahl der in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen Personen zum ersten Mal seit 2015 zurückgegangen. Grund dafür waren allerdings nicht Abschiebungen, sondern die Vergabe des sogenannten Chancenaufenthalts an Geduldete. 

Mehr Inhaftierungen gleich mehr Abschiebungen?

Ein Bereich, auf den sich mehrere Reformen der Vergangenheit konzentriert haben, ist die Abschiebehaft. Auch das aktuelle Gesetzespaket sieht vor, dass der “Ausreisegewahrsam” verlängert werden kann.

Abschiebehaft ist laut Expert:innen inhuman: Sie kann schwerwiegende Auswirkungen auf das physische und psychische Wohlbefinden der ausreisepflichtigen Personen haben, wie zahlreiche Studien belegt haben. Sie gilt außerdem als teuer und inneffektiv: Schon vor zehn Jahren hat eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) festgestellt, dass die Inhaftierung ausreisepflichtiger Personen teuer und nicht besonders wirksam ist, um Rückführungen zu bewirken.

Das bestätigt eine Befragung des MEDIENDIENSTES unter den zuständigen Ministerien der Länder. Mehr Inhaftierungen führen nicht unbedingt dazu, dass mehr Menschen abgeschoben werden: 2019 ist zum Beispiel die Zahl der Inhaftierungen gestiegen, während die Zahl der Abschiebungen zurückgegangen ist. Nach der Pandemie ist die Zahl der Inhaftierungen wieder deutlich gestiegen, ohne dass es zu signifikant mehr Abschiebungen kam.

Werden alle Personen in Abschiebehaft auch abgeschoben?

Nicht alle inhaftierten Personen werden abgeschoben. Da nicht alle Bundesländer über Abschiebehafteinrichtungen verfügen und Personen, die abgeschoben werden müssen, oftmals in andere Bundesländer überstellt werden, ist eine umfassende Statistik zu Inhaftierungen und Abschiebungen aus der Haft nicht möglich.

Ein Blick auf die Zahlen aus einigen Bundesländern, die über größere Hafteinrichtungen (40 Plätze oder mehr) verfügen, zeigt: Der Anteil der Personen, die aus der Abschiebungshaft abgeschoben werden, variiert sehr stark von Bundesland zu Bundesland. Während etwa in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im ersten Halbjahr 2023 vier von fünf inhaftierten Personen abgeschoben wurden, war es in Sachsen eine von zehn Personen.

Beitragsfoto: Abschiebegefängnis in Pforzheim

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.