ERLEBNIS IN OBERHAUSEN

Ein Wort zum Montag, dem 9. Oktober 2023

VON CORNELIA SENG

Es ist schon dunkel am Hauptbahnhof in Oberhausen. Züge fahren heute nicht. Wo fährt der Bus nach Duisburg ab? Eine große Tafel gibt Auskunft: Bussteig zehn. Mit mir warten viele Menschen. Alle sind jung. Gehen ältere um diese Uhrzeit nicht mehr raus? 

Der Bus wird voll. Zum Glück habe ich einen Sitzplatz. Manche der Mitfahrenden haben ein Tattoo, mehr oder weniger gelungen. Andere sind noch mit Kleinkindern unterwegs und vollgepackten Plastiktaschen. Vor mir steht ein Kinderwagen. Ich höre fremde Sprachen, die ich nicht sicher  identifizieren kann. Viele der Menschen müssen in einem anderen Land geboren sein als ich. Sie haben einen anderen „kulturellen Hintergrund“. Die Busfahrt verläuft reibungslos. Wir haben alle dasselbe Ziel. Für mich ist es ein interessantes Erlebnis, eine bunt zusammengewürfelte  Welt, jenseits meiner eigenen „Blase“. 

Bei der Fülle der verschiedenen Menschen muss ich an Gedanken aus der Bibel denken. Schon in der hebräischen Bibel hat sich die Vorstellung von der Wanderung der Völker zum Gott Israels entwickelt. 

Alle Völker, die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten, Herr, und deinen Namen ehren, dass du so groß bist und Wunder tust und alleine Gott bist“  (Psalm 86,9). 

Ist das neue, kosmopolitische Zusammenleben in unserer Zeit der Beginn dieser Erwartung? Natürlich weiß ich, dass Oberhausen nicht der Berg Zion ist und Deutschland nicht das gelobte Land. Aber vielleicht ist es ja so etwas wie ein Anfang, ein erster Schritt in eine neue Zeit, in der alle Völker in Frieden und Gerechtigkeit zusammen leben werden unter der Schirmherrschaft Gottes? Eine wunderbare Vorstellung! 

Es war im internationalen Treff in Kassel: Noch sehe ich die Augen des jungen Mannes vor mir. Er strahlte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er ein Dokument mit seinem Namen, ein persönliches Ausweisdokument. Im Iran hatte er nie einen Ausweis besessen, er gehörte zu einer gerade so tolerierten Minderheit. Jetzt war er glücklich. Und ich – war stolz auf Deutschland. Die Menschenwürde zählt in unserem Land!

Können wir uns noch vorstellen, dass Menschen nach Deutschland kommen, weil wir gut mit ihnen umgehen? Weil sie menschenwürdig behandelt werden in unserm Land und das Recht auch für sie gilt? (Nicht wegen der Zähne kommen sie her!) Was bedeutet es für uns selbst, in einem Rechtsstaat zu leben? In Freiheit und Respekt vor der Menschenwürde? 

Einer der liebsten Bibelverse von Martin Luther King war ein Wort des Propheten Amos: „Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5, 24). Das steht auch auf seinem Grabmal.

Darum herum fließt Wasser wie ein Strom, ein Strom in die neue Zeit.

(Menschen aus anderen Kulturen, Religionen und Völkern kennenzulernen, hilft dir, ihnen Respekt und Achtung entgegenzubringen. Jeder von uns ist einmalig! Und doch verbindet uns dieselbe Bedürftigkeit, dieselben Rechte und Werte. – M.L.King)

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