Prof Dr. Christian Klein über einen Literaturpreis für Autor:innen, die sich um die deutsche Sprache verdient gemacht haben.
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen. Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen. Das ist unendlich wichtig. (Richard von Weizsäcker)
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
VON UWE BLASS
Der Georg-Büchner-Preis feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen. Wer war Georg Büchner überhaupt?
Klein: Georg Büchner zählt zu den wichtigsten Autoren der Vormärzzeit, wurde 1813 in Hessen geboren und starb 1837 in Zürich. Ungeachtet seines kurzen Lebens hat er drei Dramen (Dantons Tod, Leonce und Lena, Woyzeck als Fragment) und die Erzählung Lenz vorgelegt, die heute allesamt zum Kanon der deutschen Literatur zählen. In der politischen Flugschrift Der hessische Landbote hat Büchner gegen die Feudalherrschaft und für die Revolution agitiert, weswegen er ins Exil gehen musste. Auch in seinen literarischen Texten, die stilistisch und in Bezug auf die künstlerische Form höchst innovativ sind, verhandelt Büchner politische Fragen, und auch dort nimmt er die Perspektive der Unterdrückten ein.
Aus welchem Grund wurde der renommierte Literaturpreis ursprünglich ins Leben gerufen?
Klein: Die Einrichtung geht letztlich auf die Initiative des hessischen Landtagsabgeordneten Julius Reiber zurück, der 1922 wenige Jahre nach der Gründung des »Volkstaats Hessen« einen »Georg-Büchner-Preis« ins Leben rufen wollte, welcher jährlich am »Verfassungstag« an hessische oder in Hessen tätige Künstler verliehen werden sollte. Damit wollte er gleichermaßen die Bedeutung der Kultur für die demokratische Gesellschaft und die republikanische Verfasstheit des Landes gewürdigt wissen.
Es folgten hitzige Debatten, in denen es um sehr grundsätzliche politische Fragen ging, die sich mit dem Namensgeber des geplanten Preises verknüpften, denn der »Dichterrevolutionär« Büchner war gerade für Konservative ein rotes Tuch. Sie brachten Goethe als alternativen Namenspatron ins Spiel, konnten sich aber nicht durchsetzen, und so wurde die Einrichtung des Hessischen Staatspreis für alle Künste mit dem Namen Georg-Büchner-Preis beschlossen, der 1923 erstmalig verliehen wurde.
1951 wurde der Preis von einem allgemeinen Kulturpreis in einen Literaturpreis umgewandelt und mit den Jahren immer höher dotiert. Geehrt werden mit diesem Preis Autorinnen und Autoren, die sich um die deutsche Sprache verdient gemacht haben? Wer fällt Ihnen da spontan ein?
Klein: Man kann ja immer erst mit einigem historischen Abstand sagen, inwieweit die Texte einzelner Autor:innen besondere Wirkung entfaltet haben. Aber sieht man sich die Liste der Preisträgerinnen seit der Umwidmung des Preises zum Literaturpreis im Jahr 1951 an, dann finden sich darauf sehr viele, die die deutsche Literatur maßgeblich beeinflusst haben: im Bereich der Lyrik etwa Gottfried Benn, Günter Eich, Paul Celan und Ingeborg Bachmann, auf dem Feld der Dramatik Thomas Bernhard, Peter Handke, Heiner Müller und Elfriede Jelinek oder Günter Grass, Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Uwe Johnson, die dem deutschsprachigen Roman nach 1945 zu Weltgeltung verholfen haben.
Das Auswahlverfahren ist bis heute nicht transparent und daher auch sehr umstritten. Die taz schreibt dazu: „Der Georg-Büchner-Preis aber ist ein scheißender Teufel auf der Suche nach dem größten Haufen. Der durchschnittliche Büchnerpreisträger ist zwischen 50 und 70 Jahre alt, meist männlich und hat schon acht bis zwölf andere Literaturpreise gewonnen. Mit dem Büchnerpreis wird bereits zementierte Bedeutung zementiert.“ Keine Chance also für Newcomer?
Klein: Im Hinblick auf die Geschichte des Preises ist die Kritik an der Homogenität der Ausgezeichneten insgesamt berechtigt, sieht man sich aber die Preisträger:innen der letzten Jahre an, dann bekamen seit 2017 abwechselnd Autorinnen und Autoren den Preis zugesprochen und vier der seit 2017 Ausgezeichneten sind Mitte bis Ende dreißig. Da scheint sich also etwas zu ändern.
Allerdings ist der Büchner-Preis grundsätzlich nicht als Auszeichnung konzipiert, mit der Newcomer oder Debütanten gewürdigt werden sollen. Laut Satzung soll der Preis an Schriftstellerinnen gehen, »die durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben«. Da hat man also insgesamt eher Etablierte im Blick, was ich aber nicht weiter problematisch finde – für Autor:innen am Anfang der Karriere gibt es andere Preise und Auszeichnungen.
Zudem soll der Büchnerpreisträger schullektüretauglich sein. Was bedeutet das?
Klein: Das scheint mir eine Erwartung zu sein, die eher von außen an den Preis herangetragen wird, aber eigentlich eine Selbstverständlichkeit artikuliert, denn wenn die ausgezeichneten Autor:innen nach den in der Satzung formulierten Kriterien ausgewählt werden, sind deren Werke eigentlich per se schullektüretauglich.
Der Frauenanteil der Preisträger ist mit 12 Schriftstellerinnen noch sehr mager. Woran liegt das?
Klein: Das liegt an der strukturellen Diskriminierung von Frauen im Literaturbetrieb, die dazu geführt hat und noch immer dazu führt, dass weibliche Produktivität auch auf dem literarischen Feld marginalisiert wird. Frauen wurde jahrhundertelang abgesprochen, originär kreativ zu sein – als »natürliche Expertinnen für das Gefühl« wurden sie als Projektionsfläche allenfalls in der Lyrik geduldet. Der »Literaturpapst« Marcel Reich-Ranicki etwa schmähte Ingeborg Bachmann Anfang der 1970er Jahre als »gefallene Lyrikerin«, weil sie Erzähltexte vorlegte. Noch als Anfang des neuen Jahrtausends in kurzer Zeit eine Reihe von Debütromanen von Autorinnen erschienen, sprach man im Feuilleton gleichermaßen despektierlich wie gönnerhaft vom »literarischen Fräuleinwunder«. Und die Aggressivität, die der Dramatik Elfriede Jelineks entgegenschlägt, hat bestimmt nicht nur mit divergierenden Einschätzungen der literarischen Qualität ihrer Stücke zu tun.
2022 wurde mit Emine Sevgi Özdamar erstmals eine Autorin geehrt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Das war ein Novum, oder?
Klein: Das kommt darauf an, wie genau man hinsieht, wo man ansetzt. Der Preisträger von 1972, Elias Canetti, wuchs zum Beispiel mit Ladino (»Judäo-Spanisch«) als Muttersprache auf und begann erst mit acht Jahren Deutsch zu lernen. George Tabori, der 1992 den Büchnerpreis erhielt, wuchs zwischen verschiedenen Sprachen auf, er sagte über seine sprachliche Sozialisation: »Ungarisch ist meine Muttersprache, Englisch meine Vatersprache, Deutsch meine Tantensprache«. Vermutlich gab es noch andere Preisträger:innen, die eine ähnlich reiche Sprachbiographie vorweisen können – und ganz sicher wird es künftig auch in dieser Hinsicht mehr Vielfalt unter den Preisträgerinnen geben.
Welche(r) deutschschreibende Autor:in wäre denn für Sie ein Anwärter auf diesen Literaturpreis?
Klein: Zum Beispiel Sasha Marianna Salzmann, weil sie literarisch eindrucksvolle Texte schreibt, die für unsere Zeit absolut relevant sind – Gegenwartsliteratur im besten Sinne also.
Prof. Dr. Christian Klein lehrt und forscht in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften in der Abteilung Neuere deutsche Literaturgeschichte / Allgemeine Literaturwissenschaft.