ZERBRECHLICHE FIGUREN

Ein Wort zum Montag, dem 31.Juli 2023

VON CORNELIA SENG

Filigran, zerbrechlich sind sie. Als trügen sie viele Pflaster. Als hätten die Brüche des Lebens sie gezeichnet. Die Rede ist von den Figuren, die die Künstlerin Roswitha Bühler fertigt. Zur Zeit werden sie in der Sommerschule in Wust, einem Nachbarort von Jerichow an der Elbe, ausgestellt. Roswitha Bühler hat ihre Werkstatt gleich neben dem Kloster von Jerichow. Nach der Eröffnung der Ausstellung bin ich noch einmal nach Wust gefahren, um die Plastiken in Ruhe zu betrachten. Was lässt sie so zerbrechlich erscheinen? 

Aus Ton sind sie geformt, aus dünnen Rollen. Die Übergänge der Rollen sind sichtbar. Wie Brüche eben. Sofort fällt mir die Zeile aus Leonhard Cohens berühmtem Lied ein: „There is a crack in everything“. Der Apostel Paulus hat es ähnlich ausgedrückt: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ (2. Kor 4,7). Die Rede ist von den Brüchen im Leben. Den Wunden und Narben, die wir davontragen. Paulus spürt sie in Bedrängnis, Verfolgung und Leiden. Wir sprechen nicht gern über die Brüche unseres Lebens. Wir tragen sie nach innen. Die Figuren von Roswitha Bühler machen sie sichtbar. Das macht die Figuren ehrlich und sympathisch.

Nachdenklich bleibe ich vor einer der Figuren stehen. Sie hat keinen ausgearbeiteten Kopf und auch keine Arme. Auf den ersten Blick wirken sie merkwürdig unfertig, so ohne Kopf und ohne Arme. Wollen sie mich daran erinnern, dass das SEIN vor dem Denken und dem Tun kommt? Dem berühmten Psychoanalytiker Erich Fromm war das wichtig. Kinder leben so, ganz im Sein. Wie „neugeboren“ haben sich die ersten Christen gefühlt. Der erste Sonntag nach Ostern heißt so: „Quasimodogeniti – Wie die neugeborenen Kindlein“. Im Glauben an Christus wurde ihnen ein neues Sein geschenkt. Bevor ich denken lerne, vor all meinem Tun und Sagen, steht die Freude am Geschenk des Lebens. Die Freude am puren Leben. 

In der Regel sind sie zu zweit unterwegs, die kleinen Figuren. Sie stehen oder sitzen nebeneinander. Eine größer als die andere. Wer Mann, wer Frau sein soll, bleibt offen. Beide können beides sein. Lebenspartner oder Freundinnen. Aber immer sind sie aufeinander bezogen. Ihre Haltung lässt Raum für meine eigenen Gedanken. Mit wem bin ich unterwegs im Leben? Wie die Freunde Jonathan und David im Alten Testament? Oder doch eher wie Abraham und Sarah – gemeinsam auf einer langen Reise in das von Gott versprochene Land? Mal bin ich diese Figur, mal jene. 

Darüber, dass das Leben nur in Gemeinschaft möglich ist, habe ich schon letzte Woche geschrieben. Diese Plastiken stellen es dar. So ist das Leben. Es ist einfach da. Und es ist ein wunderbares Geschenk.

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