VON WOLFGANG HORN
Die aktuelle IGLU-Studie, die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, belegt, daß 25 Prozent der Zehnjährigen nicht das für die weitere Bildung erforderliche Mindestniveau des Textverständnisses aufweisen: Sie können nicht oder nicht richtig lesen. In der vierten Grundschulklasse. Deutschland schafft damit zum dritten Mal in Folge einen Tiefststand. Die Kinder schneiden weit schlechter ab als Gleichaltrige in vielen anderen Ländern. Ein Befund, an den man sich offenbar bereits gewöhnt hat, waren es vor der Corona-Pandemie doch auch schon 20%, denen die ausreichende Lesefähigkeit gefehlt hat.
Zwischen vier bis sieben Millionen Erwachsene in Deutschland gelten als sekundäre Analphabeten, als Menschen, die den geringsten Leseanlässen des Alltags ausweichen müssen. Sekundärer Analphabetismus liegt vor, wenn nach einem eher weniger erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache während der Schulzeit in späteren Jahren ein Prozeß des Verlernens einsetzt und (die geringen) Kenntnisse und Fähigkeiten verloren gehen.
Ein Viertel dieser Altersgruppe der Grundschulviertklässler wird der Gesellschaft später also nicht als Fachkräfte zur Verfügung stehen können, wenn sie den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen. In den nach der Grundschule weiterführenden Schulen, der Sekundarstufe, gilt der Erwerb der Schriftsprache, Lesen und Schreiben, als abgeschlossen. Fachleute für einen zweiten Schriftspracherwerbsprozess gibt es nicht.
Ich sehe ihn vor mir, den Spitzenpolitiker und Wahlkämpfer, oft im Feinripp-Unterhemd-Look auf einem übergroßen Plakat mit einer Bildungs-Sprechblase nach der anderen: „Bildung ist die Supermacht des 21. Jahrhunderts“, „Der Schulweg muß wieder in die Zukunft führen“, „Die Digitalisierung ändert alles. Wann ändert sich die Politik?“, „Ausgaben für Bildung deutlich erhöhen“. Wie? Ausgaben für Bildung deutlich erhöhen? Ja. „Ausgaben für Bildung deutlich erhöhen“.
Natürlich weiß der Spitzenpolitiker und derzeitige Finanzminister um den Zusammenhang zwischen fehlender Lesekompetenz und Fachkräftemangel. Daß er nicht aufschreit, daß er nicht im Schulterschluß mit der Wirtschaft, die doch jetzt bereits unter dem Fachkräftemangel leidet, ein Sondervermögen Bildung installiert, ist wohl dem ideologischen Käfig geschuldet. Wann endlich wird die Politik begreifen, dass es immer noch um ein Vielfaches günstiger wird, jetzt ausreichend große Mittel aufzuwenden für alles, was zur Förderung der Lesekompetenz notwendig ist. Mehr Kita-Erzieher:innen. Sprachförderung vor der Schule. Kleinere Kita-Gruppen. Ausbildung von Grundschullehrerinnen. Kleinere Klassen. Fortbildung aller Grundschullehrkräfte zum Thema Lesen. Lese- und Sprachförderung auch noch in der Sekundarstufe.
Und dem liberalen Politiker sollte – wie mir – nicht wohl sein beim Gedanken an die Demokratie, wenn sich dann ein Viertel der Menschen in Deutschland nicht mehr qualifiziert über komplexe Themen informieren kann.
Das Land, die Republik braucht ein Sondervermögen Bildung. Jetzt.