Ein Wort zum Montag, dem 15. Mai 2023
VON CORNELIA SENG
Auf meinem Weg in die Kasseler Innenstadt komme ich oft daran vorbei: An dem Spruch hoch oben an der Hauswand. “DREAM OF FAIR TO MIDDLING WOMEN” steht da in Großbuchstaben. Zusammen mit dem Hinweis auf den Titel des ersten Romans von Samuel Beckett, dem irischen Literaturnobelpreisträger von 1969.
Was soll das heißen? “Dream of fair to middling women”? Die Bedeutung des Titels muss ich nachschlagen. Von Beckett kenne ich bisher nur “Warten auf Godot“. “Traum von mehr bis minder schönen Frauen” wird der Titel übersetzt. Hier in Kassel hatte sich Beckett in seine Cousine verliebt und war mehrmals zu Besuch in der Stadt. Als ganz junger Mann hat er danach dieses Buch geschrieben, sein Erstlingswerk. Es durfte erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Ob er den Titel selber komisch fand? Mich irritiert er. Was will er damit sagen? Dass er von Frauen träumt, die mehr bis minder schön sind? Träume eines jungen Mannes?
Mir fällt die Geschichte von der “verkrümmten Frau” ein. Schon achtzehn Jahre lang war sie krumm und konnte nur zu Boden gucken. Ein Geist hatte sie krumm gemacht, heißt es in der Bibel (Lk 13,10-17). Als Jesus sie sieht, ruft er sie zu sich und legt ihr die Hände auf. Stärkt ihr den Rücken. Unter seinen Händen richtet sie sich auf, kann wieder gerade gehen. Aufrecht. Ihretwegen riskiert Jesus sogar einen Streit in der Synagoge. Darf man das, Frauen zu einem aufrechten Gang verhelfen – am Sabbat? Ganz jung kann die Frau nicht mehr gewesen sein. Auch ob sie “mehr oder minder hübsch” war, spielt keine Rolle. Für Jesus ist sie eben eine “Tochter Abrahams”. Ein Mitmensch.
Die Geschichte beschäftigt mich immer wieder. Fast spüre ich die Hände Jesu auch auf meinem Rücken. Und ich strecke mich. Dass auch Frauen aufrecht und würdevoll gehen können, war Jesus offensichtlich ein Anliegen.
Aber das ist eine ganz andere Geschichte als die von Beckett.