Quisquilien zum Jahrestag

VON WOLFGANG HORN

Der Krieg mitten in Europa, von Rußland mit einer Annexion der Krim und südlicher sowie östlicher Landesteile der Ukraine und einem militärischen Überfall auf weitere Regionen und die Hauptstadt Kiew vor genau einem Jahr vom Zaun gebrochen, ist ein fürchterlicher Rückfall in überwunden geglaubte vorzivilisatorische Verhältnisse. Die Verantwortung für Krieg, Mord, Terror, Vergewaltigung, für Bomben auf ziviles Leben in der Ukraine, auf Kindergärten, Schulen oder Universitäten, auf Krankenhäuser, Kraftwerke, Wohnsiedlungen, Wasserwerke, auf Geschäfte, auf Straßen, auf das zivile Leben schlechthin, obliegt einzig dem Aggressor, Rußland und seinem despotischen Präsidenten Wladimir Putin. Keine der Ukraine und seiner Staatsführung vorgehaltene oder andere „Begründungen“, etwa, in Kiew seien Faschisten am Werk, die Ukraine sei kein selbständiges Völkerrechtssubjekt, der Krieg sei vom „Westen“ angezettelt, in der Ukraine sei Pädophilie eine gesellschaftliche Norm, halten einer Überprüfung stand oder rechtfertigten gar einen militärischen Überfall. Es handelt sich nicht um Begründungen, sondern um gefährliche Mythisierungen, um Verschwurbelungen und Verschwörungstiraden. Man mag es nicht glauben. Aber offenbar fehlt es nicht nur dem russischen Präsidenten, sondern auch der kürzlich etwa zur Entgegennahme des Berichtes zur Lage der Nation durch Putin zusammengerufenen Entourage an politischer Weitsicht, demokratischer Kultur, an zivilisatorischem Anstand. Woher sollte dies auch kommen? Aus der zaristischen Diktatur ging das riesige russische Reich nahtlos in die bolschewistische Diktatur unter Lenin, hernach in die Terrorherrschaft Stalins über. Dem folgten beinahe vierzig Jahre Diktatur der KPdSU bis unter Gorbatschow und dann Jeltsin ein wenig Perestroika und Glasnost, also modernisierende Umgestaltung und öffentliche Transparenz, in das Handlungskonzept der Herrschenden in Rußland einzogen. Diese sehr kurze Phase ist offenbar als Basis für politische Kultur, für demokratischen Widerstand gegen die Überwältigung durch eine politische und ökonomische Minderheit, als Ausgangspunkt für eine zivilisatorische Erneuerung nicht ausreichend. Seit der Machtübernahme hat Putin die gesellschaftlichen Verhältnisse derart gestaltet, daß ein relativ kleiner Kreis von Oligarchen, weitgehend aus der persönlichen Bekanntschaft Putins aus dessen Petersburger Zeit stammend, gehalten ist, die Politik Putins ökonomisch und politisch abzusichern, und hat dafür das Recht erworben, einen monströs-degountanten Lebensstil zur Schau zu stellen. Die Zustimmung zur Politik Putins, auch die Unterstützung des Krieges gegen die Ukraine fußt auf der hervorgehobenen sozialen Position der schwerreich und kulturarm daherkommenden vermeintlichen Elite des „neuen“ Russlands. Diesem System haben sich bis vor einem Jahr europäische Staaten, allen voran mein Land, die Bundesrepublik Deutschland, durch Gaseinkäufe vor allem und eine Auslieferung von Teilen der Rohstoffinfrastruktur im Wortsinn ausgeliefert, vermutlich in der irrigen Annahme, auf diese Weise neben den ökonomischen Effekten auch einen Beitrag zur Sicherung stabiler politischer Verhältnisse in Europa zu leisten. Jetzt, nach der anhaltenden Aggression gegen das nach Rußland zweitgrößte Land Europas, müssen in den westeuropäischen Ländern, in EU und NATO ungewohnte und auch unbequeme Entscheidungen getroffen werden. Es gibt kein Zurück. Wenn Rußland selbst, sein Präsident, den Krieg gegen die Ukraine als einen Stellvertreterkrieg im Kampf gegen den „Westen“ begreift, kann und darf man als europäische Macht die Ukraine nicht ihrem Schicksal überlassen. Die Ukraine ist keineswegs bereits ein demokratischer Staat. Die demokratischen Institutionen, die politischen Einrichtungen, die Parteien, die Medienlandschaft, das Rechtssystem entsprechen noch keineswegs denen eines entwickelten demokratischen Landes. Die Ökonomie zeichnet sich immer noch durch grassierende Korruption aus. Gleichwohl läßt sich eine starke gesellschaftliche Tendenz zur Entwicklung eines demokratischen Rechtsstaates erkennen, was womöglich entscheidend war für die Aggression, entstünde dort doch unmittelbar an den Landesgrenzen zu Rußland auf dem Boden eines ehemaligen Vasallenstaates ein zivilisatorisch modernes und politisch gemäßigt handelndes und mithin attraktives Vorbild auch für die Menschen auf der russischen Seite der Grenzen. Trotz oder vielleicht sogar wegen der noch nicht zu Ende gekommenen Entwicklung der politischen Verhältnisse in der Ukraine dürfen die Länder und die Menschen in Europa die Ukraine nicht aufgeben. Ohne Hilfe, ohne Finanzmittel, ohne Waffen, ohne Ausbildung, die allesamt nur aus EU-und NATOländern stammen, wäre es ein Leichtes, die Ukraine zu überrennen. Wer sich jetzt in Westeuropa gegen derartige Hilfe wendet, macht sich zum Verbündeten, zum Komplizen Russlands. Diese Hilfe – bis hin zu schweren Waffen – ist keine Alternative zu Gesprächen und Verhandlungen. Wer immer sich für Verhandlungen und Gespräche mit oder zwischen Rußland und der Ukraine, der EU oder der NATO einsetzt, muß in erster Linie garantieren, daß mit der Aufnahme von Gesprächen keine Akzeptanz der russischen Besatzung verbunden sein darf, keine heimliche und unheimliche Anerkennung der russischen Aggression. Der erste Partner, der für Verhandlungen gewonnen werden muß, kann allenfalls Rußland sein. Ohne russische Verhandlungsbereitschaft keine Verhandlungen. Der Abwehrkampf der ukrainischen Menschen ist, so gesehen, der Abwehrkampf der europäischen Menschen und Staaten gegen ein rückwärtsgewandtes und historisch überlebtes imperialistisches Politikverständnis in Zeiten höchster nuklearer Gefährdung. Die Ukraine braucht den Schutzschirm Europas und der USA. Um den Preis der eigenen Souveränität, der militärischen, ökonomischen und politischen Handlungsfähigkeit. Das bedeutet auch, daß sich etwa die innenpolitischen Verhältnisse hierzulande innerhalb des vergangenen Jahres enorm verschoben haben. Trotz der historischen Verantwortung für Nazismus und Krieg, trotz der bislang immer gewahrten Empfindsamkeit hinsichtlich des eigenen Handelns in internationalen Konflikten muß auch Deutschland zu einem „normalen“ Land werden in dem Sinne, daß zur sicherheitspolitischen Ausstattung eines solchen auch eine Armee gehört. Gefordert ist, daß Deutschland seine historische Verantwortung bewahrt und zugleich seine Sicherheit aus eigener Kraft bezieht und nicht leihweise bei europäischen Nachbarn abruft oder vermittels ökonomischer Deals bei potentiellen Gegnern und Bedrohern billig macht. Die Friedensbewegung, die deutsche Zivilgesellschaft sind ungeheure Erungenschaften, deren Kräfte nunmehr in die Abwehr der russischen Aggression fließen müssen. Der Kampf um Frieden und Abrüstung kann nicht einseitig dem Westen überlassen bleiben. Die erste Aufgabe besteht darin, die Welt zu einen im Kampf gegen imperialistische Gewalt. Unter friedlichen Bedingungen können dann die jeweils unterschiedlichen Lebensbedingungen und politischen Verhältnisse entwickelt werden. Diese entstehen aber nicht als Folge einer erfolgreichen militärischen Aggression.

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