VON EINEM MIT HALTUNG

Ein Wort zum Montag, dem 20. Februar 2023 

VON CORNELIA SENG

„Oh, sorry“, das höre ich an diesem Nachmittag öfter. Die Räume sind überfüllt. In Frankfurt wird Marc Chagall ausgestellt. Untertitel der Ausstellung: „Welt in Aufruhr“. Es geht um Bilder aus den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Als Jude musste Chagall vor den Nazis fliehen, erst nach Frankreich, dann nach Amerika.

Ich habe eine der letzten Karten für die Ausstellung ergattert. Immerhin bin ich gut vorbereitet. Die Kuratoren haben eine Online-Präsenz und Podcasts ins Internet gestellt. Es gehe darum zu zeigen, wie man „im Angesicht einer taumelnden Menschheit Haltung bewahrt“, heißt es da. Der Satz hat mich hergelockt. Wie bewahrt man Haltung angesichts einer taumelnden Menschheit? Was kann ich von Chagall lernen?

Auf den ersten Blick sind die Bilder leicht als „Chagall“ zu erkennen. Die bunten Farben leuchten. Auch auf dem düstersten Bild hat die Kuh noch einen gelben Kopf, und der Engel ist rot. Und immer wieder taucht Bella auf, seine Frau und große Liebe. Als Braut, als Geliebte, als Mutter. Will mir Chagall sagen: „Halt dich fest am Leben und an der Liebe! Sie halten dich inmitten einer taumelnden Menschheit“? Und immer wieder ist das kleine Dorf im Hintergrund zu sehen, Witebsk, seine Heimat im heutigen Weißrussland. Ein Rabbi, der mit der Thora-Rolle im Arm flieht, eine Shabbat-Kerze. Biblische Motive kommen vor, die Flucht aus Ägypten, die von der leuchtenden Wolkensäule geleitet wird. 

Kann man sich an dem festhalten, was man gelernt und erfahren hat? Kann man sich an den eigenen Erinnerungen festhalten? An der Erfahrung von einem Zuhause, auch im übertragenen Sinn? „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast“, heißt es im 2. Brief an Timotheus (3,14). Welche Rolle spielen die biblischen Geschichten für uns? Was ist Erinnerungskultur für uns heute? Haltung gewinnt man auch durch Erinnerung.

Auffällig für Chagall, den Juden, sind die vielen Christus-Darstellungen, Christus am Kreuz. Immer ist er deutlich als Jude zu erkennen. Das ist sicher ein Hinweis auf das Leid der Juden, besonders in der Zeit, in der die Bilder entstanden sind. Auch in den sehr bunten Bildern ist das Leiden präsent. Chagall schaut nicht weg in eine vermeintlich heile Welt. Er bringt das Leiden zur Sprache, er stellt es dar. 

Wo muss ich hinsehen? Auf das Leiden der Menschen im Mittelmeer, in der Ukraine, auf die Opfer der Erdbeben? Warum ist es gerade im Norden von Syrien so schwer, Hilfe möglich zu machen? Und warum bekommen Menschen mit einem türkischen Pass kurzfristig ein Aufenthaltsvisum für Deutschland, und die Menschen aus Syrien werden nicht erwähnt? Pro Asyl schreibt dazu: “Diese Einschränkung ist falsch“. 

Nachdenklich trinke ich einen Kaffee nach der Ausstellung. Joan Baez hat gesagt: „Wir können uns nicht aussuchen, wie wir sterben – oder wann. Aber wir können entscheiden, wie wir jetzt leben.“ Chagall hat es mir buchstäblich vor Augen gemalt.

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