VON WOLFGANG HORN
Weihnachten, das besinnlich-freudige Fest der Geburt Jesu, und der Jahreswechsel mit allen Hoffnungen auf bessere Zeiten sind in der Rückschau aufs Vergangene in diesen Tagen leider untrennbar verbunden mit der jähen Zäsur des völkerrechtswidrigen und imperialistischen Überfalls der Putin-Regierung Russlands auf die unabhängige Ukraine, den zweitgrößten Staat in Europa. 23 Jahre nach dem Krieg auf dem Balkan herrscht in Europa erneut ein grausamer Krieg. Seit fast einem Jahr. Zehntausende ukrainische und russische Soldaten sowie tausende ukrainische Zivilisten wurden bereits getötet, weite Teile der ukrainischen Infrastruktur wurden und werden gerade durch die russischen Angriffe auf Kiew zerstört und die Menschen erleiden Not und Elend, Tod und Verderben. Mehrere Millionen Ukrainer, meist Frauen und Kinder, mussten bereits fliehen. Rund eine Million von ihnen konnte mit aktiver Unterstützung der Kommunen und dank der praktischen Hilfe vieler Bürgerinnen und Bürger in Deutschland aufgenommen und versorgt werden. Im Rheinisch-Bergischen Kreis wohnen derzeit mehr als 3200 Ukrainer, unter ihnen viele Kinder.
Der Ukraine-Krieg hat Gas-, Öl-, Strom- und Lebensmittelpreise national und international nachgerade explodieren lassen, mit teils dramatischen Auswirkungen auf je nationale Wirtschaftssysteme, mit teils fürchterlichen Folgen für die von Naturkatastrophen, Misswirtschaft, Korruption getroffenen armen Teilen der Bevölkerung. Vor allem die wenig entwickelten Länder des globalen Südens, die im Vergleich mit dem Westen nur einen Bruchteil der fossilen Energien verbrauchen und die von immer neuen Dürre-, Überschwemmungs- und Hungerkatastrophen heimgesucht werden, leiden am stärksten unter den aktuellen Versorgungsengpässen. Europa und seine ehemals kolonialen Staaten sind gehalten, für Klimagerechtigkeit zu sorgen, hier und in diesen Ländern, dort bei der Bekämpfung des Klimawandels mit Geld, Wissenschaft, Ingenieurskunst beiseite zu stehen.
Aber auch in Europa und Deutschland droht die Energiekrise, die bereits erheblichen sozialen Verwerfungen in eine tiefe und dauerhafte Schneise in die soziale Schichtung der Gesellschaft zu verschlechtern und die Lebensumstände armer Menschen und Menschengruppen immer weiter von denen Reicher und Wohlhabender abzukoppeln. Vier von zehn Menschen in unserem Land verfügen über ein Jahres-Nettoeinkommen von weniger als 20.000 Euro und weitere Zwei, also 20 Prozent, über eines von unter 16.000 Euro. 14 Millionen Menschen gelten hierzulande als arm. Und seit März sorgt der Ukrainekrieg für einen sprunghaften Anstieg der Kunden der Tafel auch hier im eher heimelig-sozial abgefederten Wermelskirchen. Registrierte die Tafel im vergangenen Jahr noch 221 Haushalte mit 650 Personen, zählt sie in diesem Jahr bereits 362 Haushalte mit 1059 Personen, die ehrenamtlich unterstützt werden. Vor allem ein Blick auf die Zusammensetzung der Haushalte zeigt, dass der sprunghafte Anstieg vor allem mit der Flucht vieler Mütter und Kinder aus der Ukraine zusammenhängt: Denn besonders die Zahl der kleineren Haushalte ist gestiegen. Aktuell werden 76 Zwei-Personen-Haushalte versorgt, im vergangenen Jahr waren es 31. In 74 Haushalten leben drei Personen, das sind 47 mehr als 2021. Auch die Zahl der Einzelpersonen stieg: 101 Singles sind registriert, 18 mehr als im Vorjahr. In diesem Jahr versorgt die Tafel 81 Alleinerziehende mit 137 Kindern. „Das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl“, so die stellvertretende Vorsitzende der Tafel, Helga Hecht-Nowotnick, und führt sie ebenfalls auf den Krieg in Osteuropa zurück. Zudem wird die Warenbeschaffung immer schwieriger. Obst und Gemüse wird in den Märkten mehr und mehr zum kleineren Preis auch noch einen Tag später verkauft. Dadurch kommt weniger bei der Tafel an. Die Tafel muß vor allem bei den Frischwaren mehr zukaufen und die hohen Preise bekommt sie natürlich deutlich zu spüren.
Der Skandal im Skandal ist, daß bei uns, in einem der reichsten und entwickeltsten Länder Erde mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche als arm gelten. Das ist jedes fünfte Kind. Kinder-Armut in Deutschland ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Die Chancen auf ein gutes Aufwachsen sind in Deutschland von Geburt an höchst ungleich verteilt. Angesichts der Dimensionen von Kinderarmut reicht es nicht mehr aus, an einzelnen Schräubchen im bisherigen System zu drehen. Das Problem der Kinderarmut lässt sich nachhaltig weder über eine geringfügige Anhebung des Kindergeldes noch über die Ausweitung des Kinderzuschlags oder über eine Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung rasch, zielgerichtet und befriedigend lösen. Immer noch hat der Deutsche Schäferhund-Verein mehr Mitglieder als der Kinderschutzbund.
Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben die Covid-Pandemie nach drei Jahren mehr und mehr aus den Schlagzeilen und dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Wir alle genießen es, uns wieder unbeschwert mit Freunden und Verwandten treffen zu können und freuen uns, dass endlich wieder gesellschaftliches und kulturelles Leben stattfinden kann. Gleichwohl: Die Pandemie ist nicht vorbei und niemand weiß, welche Varianten von COVID uns noch bevorstehen. Das Robert-Koch-Institut meldet heute morgen 157 an oder mit Cocid-19 Verstorbene. Tag für Tag sterben immer noch Hunderte Manschen an diesem Virus. Die Infektions- und Erkrankungszahlen nehmen aktuell wieder zu. Schon ist in den Zeitungen zu lesen, daß eine besorgniserregende Corona-Variante, Minotaur, Omikron-Variante BF.7, aus China nach Europa schwappe, die das Coronavirus ansteckender mache als je zuvor. Die genaue Zahl derer, die an Long-Covid leiden, ist nicht bekannt. Ingesamt sind bislang bereits 160.768 Menschen in unserem Land am Coronavirus verstorben. Mithin steht der “entwarnende” Ruf in den uneingeschränkten Kontakt mit Mitmenschen nicht auf der Tagesordnung. Mit Nachbarn und Familie, mit Konzertbesuchern oder Museumsgästen, in Restaurants oder Hotels, im Personennah- und Fernverkehr, in Einkaufstempeln, Kinos oder bei Sportveranstaltungen sollten wir uns weiter schützen, achtsam sein, auf kranke oder geschädigte Mitmenschen achten.
Eine Schande ist und bleibt die europäische und deutsche Flüchtlingspolitik. Im Mittelmeer, in den griechischen Flüchtlingslagern, an der belarussisch-polnischen Grenze, auf der Balkanroute und in Calais wird weiter gehungert, gefroren und gestorben. Allein im Jahr 2022 ertranken mehr als 2000 Flüchtlinge im Mittelmeer. Statt einer geregelten Aufnahme von Geflüchteten laut Genfer Konvention soll die Wagenburg Europa durch die verstärkte Sicherung der Außengrenzen vor Flüchtlingen „geschützt“ werden – leider auch mit Unterstützung der deutschen Innenministerin. Es ist zutiefst inhuman, ukrainische Kriegsflüchtlinge (zurecht) willkommen zu heißen, Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak und aus Afghanistan, die unter Lebensgefahr nach Europa geflohen sind, jedoch nicht aufnehmen zu wollen. Nicht nur in der Ukraine, sondern an vielen anderen Orten finden derzeit grausame Kriege und Bürgerkriege statt, werden Menschen unterdrückt, drangsaliert, inhaftiert, gefoltert, ermordet und vertrieben. Den Bürgerkrieg im Jemen, in dem bereits 380.000 Menschen getötet wurden, stuft die UN als weltweit größte Katastrophe ein. Dies ist bei uns kaum bekannt, was auch auf eine eurozentristische Sichtweise der Medien zurückgeht. Militärische Auseinandersetzungen mit vielen Toten finden zur Zeit in Myanmar, Syrien, Irak, Pakistan, Nigeria, Sudan und Mali statt. In Afghanistan und dem Iran werden die Menschen von radikal-islamistischen Regimen der Taliban und der Mullahs unterdrückt, wovon insbesondere Frauen betroffen sind, deren mutiger Widerstand erfreulicherweise immer mehr Unterstützung durch die Bevölkerung erfährt. Nicht zu vergessen die systematische Unterdrückung der Uiguren durch das chinesische Regime.
Die Welt ist 2022 entgegen aller Bemühungen nicht besser oder demokratischer geworden. Der von der britischen Zeitschrift The Economist in 167 Ländern jährlich erhobene Demokratieindex weist aus, dass 2021 46% (2020: 49%) der Weltbevölkerung in einer vollständigen (bis Platz 20 ) oder unvollständigen Demokratie leben, während 37% in einer Diktatur leben (müssen). Die norwegische Demokratie belegt Platz 1, Deutschland 15, USA 28, Indien 46, Ungarn 58, Ukraine 86, Türkei 103, Russland 124, China 148, Iran 154, Afghanistan 167. Auch bei der Pressefreiheit hat sich die Situation verschlechtert. Laut Reporter ohne Grenzen ist die Zahl der inhaftierten Jounalist:innen 2022 mit mindestens 533 Fällen auf ein Rekordhoch angestiegen. 57 Journalist:innen wurden wegen ihrer Arbeit getötet, 19% mehr als im Vorjahr. Der von transparency international erhobene Korruptionsindex weist für 2021 folgendes aus: Dänemark belegt Rang 1 mit dem geringsten Korruptionswert, Deutschland 10, USA 27, China 66, Ungarn 73, Indien 85, Türkei 96, Ukraine 122, Russland 136.
Krisenzeiten sind immer gute Zeiten für Rechtspopulisten, Rechtsextremisten, Rassisten, Antisemiten und Nationalisten. So hat die AfD bei der Landtagswahl in Niedersachsen mit 11% ihr Ergebnis von 2017 fast verdoppelt. Und jüngst haben wieder mehrere tausend Rechtsradikale aller Schattierungen, Coronaleugner, Impfgegner, Esoteriker und Verschwörungserzähler gegen die angebliche Unterdrückung durch Eliten, gegen die angebliche Diktatur der Einheitsmedien, gegen das System, gegen Migranten und Gender, kurzum gegen die Demokratie demonstriert. Aktuell versuchen sie, die berechtigten Ängste der Menschen vor den drohenden Belastungen durch Inflation und hohe Energiekosten für ihre demokratiefeindlichen Ziele zu instrumentalisieren. Dies fordert den Widerstand aller Demokratinnen und Demokraten heraus, weil sie für all das stehen, was wir ablehnen und bekämpfen. Zum Alarmismus besteht jedoch kein Anlass. Denn 89% der Wähler:innen haben die AfD nicht gewählt. Und diese 89% sind eher das Volk und, natürlich, nicht die 11%. Anders verhält es sich beim Umgang mit den geschätzt 23.000 sogenannten Reichsbürgern, deren Spitzenpersonal wegen mörderischer Umsturzpläne vor kurzem im Rahmen einer erfolgreichen Razzia verhaftet wurde. Diese häufig als Spinner belächelte Truppe mit Kontakten in den Bundestag, zu Polizei und Bundeswehr muss als reale Bedrohung der Demokratie betrachtet, ständig beobachtet, konsequent entwaffnet und mit allen rechtstaatlichen Mitteln bekämpft werden.
Ein Blick in Hochburgen rechtsextremistischer Gesellschaftspolitik, beispielsweise in die USA unter Trump, zeigt, dass in einem System, das stets dem individuellen Erfolg den Vorrang vor gesellschaftlichem Ausgleich gegeben hat, die Bindungskräfte verloren gegangen sind. So etwas wie die nationalen Interessen und die diese repräsentierenden Institutionen galten mal als letzte Einigungsmenge zwischen den Lagern. Jetzt gibt es ein nicht kleines Lager, das diese Institutionen zerstören möchte. Die Demokratie ist nicht gottgegeben. In den USA nicht, in Europa nicht, nicht in Deutschland. Die Demokratie und ihre Institutionen, freie Gericht, eine freie Presse, eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, all das muß geschützt werden, achtsam, die Grundrechte, die Meinungs- und Kunstfreiheit, die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit müssen Tag für Tag gegen die Gegner der Demokratie verteidigt werden.
Stehen wir beieinander, Schulter an Schulter. Achten wir gegenseitig auf uns. Uns trennen im Kampf um Demokratie und sozialen Fortschritt nicht Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Sexualität, Ethnie, Hautfarbe oder Kontostand. Bleiben wir einig im Kampf für den Schutz und den weiteren Ausbau einer demokratischen deutschen Gesellschaft.
Das Forum Wermelskirchen wünscht allen Lesern, allen Mitarbeitern, allen Förderern und allen Helfern trotz bisweilen bedrückender Umstände erholsame und besinnliche Feiertage und einen guten Übergang in ein hoffentlich friedlicheres, sozial ausgeglicheneres, gesünderes Jahr 2023 mit einer starken Zivilgesellschaft und noch mehr ehrenamtlich tätigen Menschen, die durch ihr Wirken die Demokratie schützen und befördern.
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