Prof. Dr. Anne-Rose Meyer über die Wuppertaler Frauenrechtlerin Helene Stöcker und ihren einzigen Roman „Liebe“
Jahr100Wissen
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen. Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen. Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
VON UWE BLASS
Helene Stöcker wurde 1869 in Elberfeld geboren. Wer war diese Frau?
Meyer: Helene Stöcker war eine der wichtigsten Kämpferinnen für Frauenrechte in Deutschland. Sie machte sich dafür stark, dass Frauen Schulen und Universitäten besuchen durften, propagierte sexuelle Aufklärung und weibliche Selbstbestimmung. Grundlage dafür war, dass sie Frauen und Männer als gleichberechtigt ansah. Sie vertrat Ansichten, die auch heute noch als modern gelten: etwa dass Weiblichkeit und Bildung und Weiblichkeit und Berufstätigkeit einander nicht ausschließen, ebenso wenig wie Heirat und Studium und Heirat und Berufstätigkeit. Was für Männer selbstverständlich war, wollte Stöcker auch für Frauen erreichen. Auch als Mütter sollten Frauen ernstzunehmende Persönlichkeiten sein. So schrieb sie 1902 in Die neue Mutter: „Es darf aus dem ‚Mutterberuf‘ kein Dogma gemacht werden, das die freie Entwicklung der einzelnen Frauenpersönlichkeit hemmt.“ Neben ihrem Engagement als Feministin wirkte sie als Pazifistin und Publizistin.
1896 nahm sie als Frau ein Studium in Berlin auf und hatte mit massiven Schwierigkeiten zu kämpfen. Welche waren das?
Meyer: Frauen waren noch nicht regulär zum Studium an Universitäten zugelassen. Stöcker gehörte zu den ersten Studentinnen, die als Gasthörerinnen die Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität besuchen durften – vorausgesetzt, der die Vorlesung oder das Seminar haltende Professor war damit ausdrücklich einverstanden.
Die ‚Studentinnen‘ hatten gegen viele Vorurteile zu kämpfen. In ihren Lebenserinnerungen schreibt Stöcker darüber. Dozenten vertraten etwa die Ansicht, Frauen zerstörten die Universitäten, sie seien nicht fähig zu wissenschaftlichem Denken. Nur der Mann verfüge über Logik, Selbständigkeit im Denken und Handeln, Leistungs- und Urteilsfähigkeit, Schöpferkraft, Originalität und Produktivität. Bestenfalls wurden Frauen an Universitäten ignoriert, schlimmstenfalls lächerlich gemacht und öffentlich herabgewürdigt. Dass sie einen akademischen Grad erwarben, war nicht vorgesehen. Doch Stöcker ließ sich nicht entmutigen. Sie gründete 1896 den Verein Studierender Frauen, ein Forum, in dem Frauen Vorträge halten und hören konnten. Die Vereinsmitglieder lehnten die Anrede „Fräulein“ ab und plädierten für die Anrede „Frau“. Stöcker wurde 1901 gegen alle Widerstände mit einer interdisziplinären Arbeit Zur Kunstanschauung des 18. Jahrhunderts: Von Winckelmann bis zu Wackenroder bei Oskar Walzel in Bern promoviert.
Sie gründete bereits 1905 den Bund für Mutterschutz, der sich für unverheiratete Mütter und deren Kinder einsetzte. Das war außergewöhnlich, oder?
Meyer: Unbedingt. Der Bund für Mutterschutz ist ein Ergebnis des sogenannten neuen ethischen Denkens Stöckers. Sie ging davon aus, dass Männer und Frauen in ihrer Physiognomie, in ihrem Denken, Fühlen, Handeln nicht gleich, aber gleichwertig seien und deswegen gleichberechtigt sein sollten. Dazu gehörte es ihrer Ansicht nach auch, Frauen, die unehelich schwanger geworden waren, nicht zu diskriminieren, sondern zu unterstützen. Dazu sollte auch der Kindsvater beitragen, denn Stöcker sprach sich gegen die gesellschaftliche Doppelmoral aus, der zufolge dem Mann das Recht auf eine erfüllte, auch außereheliche Sexualität zugesprochen wurde, der Frau aber nicht. Idealerweise sollten Mann und Frau – egal ob verheiratet oder nicht – gemeinsam für ihre Kinder sorgen.
In Die Liebe der Zukunft von 1920 schreibt sie: „‘Der‘ Mann, ‚das‘ Weib, ‚der‘ Typus – darf man denn im Zeitalter der tief erkannten Relativität aller Dinge […]: daß es keine hundertprozentigen Männer, keine hundertprozentigen Frauen gibt, sondern daß wir alle nur unendlich verschiedene Mischungen von ‚M‘ (Mann) und ‚W‘ (Weib) sind, – darf man jetzt noch mit etwas so Unrealem, wie ‚dem Mann, ‚der‘ Frau an sich argumentieren? Nein, Gott sei Dank“.
Das sind Gedanken, die sehr heutig anmuten. Mutterschaft begreift Stöcker als soziale Leistung. Eheliche und uneheliche Kinder sollten rechtlich gleichgestellt sein, war eine ihrer Forderungen. Sie setzte sich für sexuelle Aufklärung ein, was Empfängnisverhütung einschloss. Ledige Mütter konnten Hilfe in Heimen des Bundes für Mutterschutz finden, von denen es 1912 bereits 36 gab. Auch setzten sich Stöcker und ihre Mitstreiterinnen für die Einführung der Mutterschutzversicherung ein – also einer finanziellen Unterstützung in der Zeit rund um die Geburt, dem heutigen Mutterschaftsgeld vergleichbar. Ein wichtiges Ziel war auch die Entkriminalisierung der Homosexualität – auch dies war sehr fortschrittlich.
Nach ihrem Studium wollte sie vor allem ihre Eigenständigkeit wahren und hielt u.a. Vorträge über Frauenbildung und Frauenrechte, in denen sie soziale Gerechtigkeit mit individuellen Entwicklungsmöglichkeiten forderte. Manchen Zeitgenossen war sie aber auch zu radikal, oder?
Meyer: Ja, Helene Stöcker polarisierte. Denn das, was sie forderte, bedeutete für die Männer einen Machtverlust: Die Frau sollte nicht mehr folgsame Sklavin, sondern gleichberechtigte Gefährtin und gleich wichtige Geliebte sein. Ihre Leistung, Kinder zu gebären und aufzuziehen, sollte nicht nur ideell gewürdigt, sondern auch finanziell kompensiert werden. Stöcker verlangt in ihrer Schrift Unsere Umwertung der Werte die Möglichkeit, als Frau „Zahnarzt und Rechtsanwalt“ zu werden. Die männliche grammatische Form drückt die Forderung nach Gleichstellung, gesellschaftlicher Teilhabe, Einfluss und Bildung aus. Finanzielle Unabhängigkeit von Frau und Mann sieht Stöcker als Grundbedingung für Freiheit an. Der „Kern der Frauenfrage“ sei eine andere Erziehung der Männer, schreibt sie! Immer wieder wurde sie für ihre Ansichten heftig attackiert, öffentlich wie privat.
Vor allem ihre Forderungen auf ein Recht auf Abtreibung riefen Gegnerinnen auf den Plan – auch innerhalb des Kreises von Frauenrechtlerinnen und der Mitglieder des Bundes für Mutterschutz. Stöckers Forderungen zufolge sollte Abtreibung nicht nur nach einer Vergewaltigung oder Schädigung des Kindes straffrei sein, sondern auch bei zu erwartender körperlicher oder seelischer Krankheit des Kindes, wirtschaftlicher Not oder einer anderen Art der Gefährdung der Existenz von Mutter und Kind. Aber sie hatte auch viele Anhänger:innen und stand in regelmäßigem Kontakt zu prominenten Zeitgenossen wie Sigmund Freud, Friedrich Naumann, Ricarda Huch.
1922 schrieb Helene Stöcker ihren einzigen Roman mit dem Titel Liebe über eine selbstbewusste und wirtschaftlich unabhängige Frau, die eine sexuelle Beziehung nur aus Liebe eingeht. Eine autobiographische Geschichte?
Meyer: Ja, der Roman ist tatsächlich autobiographisch grundiert. Sie erlebte selbst als junge Frau in ihrer Berliner Zeit eine amour fou mit einem Lektor für deutsche Sprache und Literatur, Alexander Tille. Der Pastorensohn war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Nicht nur nach wilhelminischen Moralvorstellungen, auch nach heutigen ist das eine schwierige Situation. Helene Stöcker fühlte sich sowohl körperlich wie geistig zu Tille hingezogen. Gemeinsame Interessen waren das Werk Friedrich Nietzsches, der Sozialismus, deutsche Lyrik und Romantik. Als Tilles Frau unerwartet starb und Stöcker deren Stelle hätte einnehmen können, schreckte sie zurück. Sie hatte Angst, nur noch Mutter, Ehe- und Hausfrau sein zu müssen. Ihr Geliebter war enttäuscht von ihr. Sie trennten sich und Tille starb bereits 1912 an einem Herzinfarkt.
Der Roman Liebe verarbeitet einen vergleichbaren Konflikt zwischen dem Wunsch nach weiblicher Selbstbestimmung und Hingabe an den geliebten Mann: Robert ist ein gutaussehender, verheirateter Professor für Kunstgeschichte, der die junge, aufstrebende Kunststudentin Irene umgarnt. Sie verfällt ihm, wird seine Geliebte und stellt für ihre Beziehung zeitweise ihre künstlerischen Ambitionen hintenan. Der Roman zeichnet in Form eines Tagebuchs – stellenweise aus heutiger Sicht etwas pathetisch, aber sehr lebensnah und mitreißend – das Psychogramm einer erst heißer, dann immer kälter werdenden Liebe aus der Perspektive der jungen Frau nach. Dabei werden Themen wie der erste Geschlechtsverkehr und erotische Anziehung nicht ausgespart. Diese lässt jedoch nach: Robert erweist sich als unfähig, mit bürgerlicher Doppelmoral zu brechen. Nicht nur lässt er sich nicht von seiner Frau scheiden, sondern er unterhält auch andere Liebschaften neben der zu Irene. Diese registriert ihren allmählichen Ich-Verlust und findet am Schluss des Romans wieder zu ihrer Bestimmung als Künstlerin und ihrem Leben als selbstbestimmte Frau zurück. Aber sie behält zahlreiche schmerzhafte, seelische Verletzungen zurück.
Der Roman zeugt von einem Menschenbild liebevoller Gleichberechtigung. Sie widmete eine Ausgabe handschriftlich dem deutsch-jüdischen Paar Armin T. Wegner und Lola Landau, welches heute im Armin T. Wegner-Zimmer der Stadtbibliothek Wuppertal liegt. Sah sie ihre Fiktion in den beiden Literaten verwirklicht?
Meyer: Was Selbstbestimmung und Freiheit in der Ehe anging, sicherlich. Doch war auch die Liebe zwischen Lola Landau und Armin Theophil Wegner nicht von Dauer. Sie wurde 1939 geschieden, da Landau mit ihren Kindern in Palästina leben wollte.
Sexualität gehörte für Stöcker „zu den höchsten Beglückungen des Menschen“. Daher sei es ihrer Meinung nach wünschenswert „möglichst vielen Menschen diese höchste Lebensfreude zugänglich zu machen“. Das war für damalige Moralvorstellungen der Supergau, oder?
Meyer: Es war für breite Kreise höchst schockierend, was Stöcker zu Sex zu sagen hatte. Einvernehmlich sollte er sein, auch die Frau solle Befriedigung finden. Unerhört! Aber Stöcker ging es bei ihrer Auseinandersetzung mit körperlicher Liebe nicht nur ums Bett. Sie strebte nach Höherem. In ihrer Schrift Die Liebe der Zukunft von 1920 vertritt sie die Ansicht, dass eine gleichberechtigte, harmonische Beziehung zwischen Mann und Frau die Keimzelle für eine bessere, eine „wahrhaft menschliche Gemeinschaft der Zukunft“ sei. Dies schließt auch ein erfülltes Sexualleben ein. Sie kritisiert offen eine rein männliche Gesellschaft, die „eine Geschlechtsherrschaft“ sei.
Sie war eine sehr streitbare Frau, die immer offen Ihre Meinung vertrat. Musste die deswegen 1933 fliehen?
Meyer: Helene Stöcker war nicht nur Frauenrechtlerin, sondern auch Pazifistin. Als solche hatte sie bereits den 1. Weltkrieg verurteilt. Die Wiederaufrüstung erfüllte sie mit Sorge. Nach der Reichstagswahl 1933 ging sie in die Schweiz. Sie war zu diesem Zeitpunkt keiner konkreten Bedrohung oder Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt, aber sah in Deutschland auch keine Möglichkeit mehr, sich politisch frei zu entfalten. Auch hatte sie bereits früh mit Schrecken den wachsenden Antisemitismus registriert. In Deutschland hielt sie nichts mehr.
Über die Schweiz nach Schweden, weiter über die Sowjetunion und Japan in die Vereinigten Staaten, starb sie 1943 verarmt an einer Krebserkrankung in New York City. Seit 2014 gibt es in der Schulstraße ein Helene-Stöcker-Denkmal nach einem Entwurf von Ulle Hees und Frank Breidenbruch. Was ist ihr Vermächtnis an uns heute?
Meyer: Unsere Gesellschaft ist ganz wesentlich von Helene Stöcker geprägt. Vorbildlich ist, wie sie sich in einem frauenfeindlichen Umfeld, wie es die damaligen Universitäten waren, durchsetzte und ihre Doktorarbeit schrieb und verteidigte. Gerade in der heutigen Zeit ist Gleichberechtigung im Beruf, in der Ausbildung und im Studium immer noch ein zentrales Thema. Durch Corona ist das für viele wieder sehr präsent geworden. Der finanzielle Ausgleich für Frauen, die sich verstärkt der Kindererziehung widmen, wird heute breit diskutiert, wenn auch immer noch nicht in ausreichendem Maß vollzogen. Hier können Stöckers Schriften als Mahnungen wirken!
Sie vertrat allerdings nie die Ansicht, eine Frau solle nur Mutter sein. Ihr Ideal war das der durch einen Beruf im positiven Sinne geforderten und erfüllten Frau, die selbstverständlich auch Kinder bekommt und diese mit ihrem Mann in gerechter Arbeitsteilung aufzieht. Wir profitieren heute in unserer Gesellschaft davon, dass Stöcker das weibliche Recht auf sexuelle Selbstbestimmung propagiert und dass sie uns gezeigt hat, wie wichtig es ist, Körperlichkeit und Lust sowohl bei Männern wie bei Frauen ernst zu nehmen.
Dass eine gleichberechtigte, harmonische Sexualität nicht nur etwas Privates, Individuelles, sondern auch einen gesellschaftlichen Grundwert darstellt, ist eine Einsicht, die wir Stöcker verdanken. Ihr Eintreten für die Rechte Homosexueller und ihr Denken, das Gegensätze zwischen Männern und Frauen einerseits voraussetzte, andererseits aber auch aufbrach, wirkt heute eminent modern und sollte unter Vorzeichen der zeitgenössischen gender studies noch einmal betrachtet werden. Nicht zuletzt ihr Eintreten für den Weltfrieden macht sie zu einer wichtigen Denkerin auch für die heutige Zeit.
Prof. Dr. Anne-Rose Meyer studierte Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft, Neuere Germanistik und Romanistik an der Universität Bonn und promovierte ebd. 2000. Meyer habilitierte sich 2009 an der Universität Paderborn. 2018 wird sie zur apl. Professorin an der Bergischen Universität ernannt. Sie lehrt Neuere deutsche Literatur in der Fakultät für Geistes- und Naturwissenschaften ebenda.